Weder die Rechtsextremen noch die gemäßigten Kräfte in der AfD haben eine Antwort auf die gegenwärtige Krise. Wenn sie sich nicht trennen, wird das Hickhack sie weiter schädigen. Ein Interview mit dem Politikwissenschaftler Eckhard Jesse.
Herr Jesse, ist die AfD dabei, sich zu zerlegen?
Die AfD ist in der größten Krise ihrer nicht an Krisen armen siebenjährigen Geschichte. Zwar weiß keiner genau wie es weitergeht, denn Prognosen sind nach einem berühmten Wort dann besonders schwierig, wenn sie die Zukunft betreffen. Aber zwei Entwicklungen dürften auszuschließen sein: dass die Partei gestärkt aus dieser Krise hervorgeht (dafür rumoren die internen Konflikte zu stark), und dass sie sich gänzlich „zerlegt“ (dafür ist die in allen 16 Landesparlamenten vertretene Partei gesellschaftlich schon zu verankert). Mit anderen Worten: Die AfD wird bei der Bundestagswahl 2021 den Sprung über die Fünfprozenthürde schaffen, jedoch nicht wieder mehr als jeden achten Wähler wie 2017 mit 12,6 Prozent der Stimmen für sich gewinnen. Bürger gehen gemeinhin auf Abstand zu einer Partei, deren führende Repräsentanten sich „bekriegen“.
Steht da Ost- gegen West-AfD?
Der offen ausgetragene Machtkampf – man muss von einer Richtungsauseinandersetzung sprechen, die keineswegs in erster Linie auf taktisch bedingten Ursachen fußt – innerhalb der AfD ist eine Fehde zwischen Hardlinern und Softlinern, wobei es selbst bei der letzten Richtung solche gibt, die mit der Art und Weise, wie der frühere „Flügel“-Mann Andreas Kalbitz aus der Partei gedrängt werden soll, durchaus fremdeln. Sein Ausschluss wegen der verschwiegenen Aktivitäten in der rechtsextremistischen „Heimattreuen Deutschen Jugend“ stößt parteiintern nämlich auf Skepsis. Und es zeigt sich ein beträchtlicher Gegensatz zwischen Ost und West. Die Partei ist im Osten deutlich stärker. Bei der Bundestagswahl 2017 erreichte die AfD im Westen 10,7 Prozent, im Osten 21,9 Prozent, also mehr als doppelt so viel. Bei den Europawahlen 2019 waren die Unterschiede zugunsten des Ostens noch größer: mit 21,1 Prozent gegenüber 8,8 Prozent. Das beste Ergebnis der AfD im Westen bei Landtagswahlen (Baden-Württemberg 2016: 15,1 Prozent) fällt klar schwächer aus als das schlechteste im Osten (Mecklenburg-Vorpommern 2016: 20,8 Prozent). In Sachsen erreichte die AfD bei den Landtagswahlen gar 27,5 Prozent, in Sachsen-Anhalt 24,3 Prozent, in Brandenburg 23,5 Prozent und in Thüringen 23,4 Prozent. Das Paradoxe: Anders als bei der Partei Die Linke ist die AfD dort besonders stark, wo ihre Radikalität ins Auge springt. Und im fünfmal größeren Westen stagniert die Partei, weil der radikale Kurs in den meisten ostdeutschen Landesverbänden Wähler eher abschreckt.
Parteichef Jörg Meuthen verweist gern auf die Grünen, die zu Anfang auch viel Richtungsstreit austrugen. Aber streitet die AfD nach sieben Jahren nicht schon ein bisschen
zu lange?
Wer die Grünen in der Anfangsphase mit der AfD vergleicht, erkennt durchaus Parallelen: Zwist, Zwist, Zwist. Die Streitigkeiten fußten seinerzeit ebenso auf Konflikten zwischen Radikalen („Fundis“) und Gemäßigten („Realos“). Die einen strebten bald eine Regierungsbeteiligung an, die anderen außerparlamentarischen Druck. Bei der AfD wollen mittlerweile alle an die Regierung, und sei es als Juniorpartner. Es gibt weitere Unterschiede: Ist heute das gesamte politische Establishment schroff gegen die AfD eingestellt, traf dies vor vier Jahrzehnten so nicht zu. Und der Trend bei den Grünen wies seinerzeit in eine andere Richtung: Wurden sie allmählich gemäßigter, ist dies bei der AfD keineswegs der Fall.
Schafft Meuthen das, woran Bernd Lucke und Frauke Petry gescheitert sind, nämlich die Flügel sauber zu trennen?
Das ist die Gretchenfrage! Bernd Lucke und Frauke Petry verließen resigniert die AfD, weil sie nicht mehr die Mehrheit auf ihrer Seite hatten. Sie sind aber ebenso an ihrer mangelnden Teamfähigkeit gescheitert. Die von ihnen ins Leben gerufenen Parteien blieben gänzlich erfolglos. Es kann sein, dass Meuthen, der es oft genug an strategischem Geschick hat fehlen lassen, die Auseinandersetzung nicht gewinnt und der Partei verbittert den Rücken kehrt. Aber noch mehr spricht dafür, dass Kalbitz mit seinen Getreuen den Machtkampf verliert, denn die Partei dürfte mehrheitlich wissen: Unter Björn Höcke und Kalbitz besitzt sie keinerlei Machtoption, gelingt ihr kein „Einbruch“ in das „bürgerliche“ Lager. Der Verfassungsschutz wird eine solche Kraft als verfassungsfeindlich deklarieren. Die Konsequenz: „Vorzeigbare“ Leute ziehen sich zurück und treten nicht in die Partei ein. Das Wahrscheinliche: Die Richtung, die die Partei verlässt, gerät ins Wahl-Abseits.
Wird die AfD sich am Ende in einen konservativ-bürgerlichen Teil und eine stramm rechts angesiedelte Neonazi-Partei aufspalten?
Ob die AfD sich spaltet, steht in den Sternen. Dies hängt von vielen Faktoren ab: von personellen, strategischen und inhaltlichen. Eine innere Spaltung existiert bereits. Sollte es zu einer formellen Spaltung kommen, sind sich die beiden Strömungen nicht grün. Das Motto wird nicht lauten: getrennt marschieren, vereint schlagen. Sollte eine Spaltung ausbleiben, setzt sich das unerquickliche Hickhack wohl fort nach dem berühmten Motto: „Feind, Erzfeind, Parteifreund“. Das eine wie das andere Szenario ist für die Partei ungut. Ihr Dilemma: Sie braucht eigentlich beide Strömungen, aber durch den Verfassungsschutz geht die bisherige Strategie nicht mehr auf.
Was wäre für die CDU besser: eine „AfD light“, mit der man am Ende auch koalieren, oder eine rechtsextreme AfD, auf die man einschlagen könnte?
Die Union dürfte es sich in absehbarer Zeit nicht leisten, ein Bündnis mit einer „AfD light“ anzustreben. Dieses Szenario hätte für sie allerdings mittelfristig den Vorteil, dass sich vor der Wahl zwei große Lager gegenüberstünden: ein nicht-linkes (Union, FDP, gemäßigte AfD) und ein linkes (SPD, Grüne, Die Linke). Allerdings ist schwer zu sagen, ob die Union dadurch Wählerstimmen einbüßen würde. Sollte die AfD sich hinfort als rechtsextremistisch-systemoppositionelle Kraft ausrichten, so liegt folgende Annahme nahe: Ein Teil der Wähler würde zur Union zurückkehren, ferner zur SPD und zur Partei Die Linke. Es gibt auch Stimmen, die sich von solchen Überlegungen ganz freimachen, weil sie auf lagerübergreifende schwarz-grüne Bündnisse setzen.
Oder steckt hinter dem Abspalten der Rechtsextremen das Kalkül, sich attraktiver zu machen für die Übernahme der Bewegung der mit den Corona-Maßnahmen Unzufriedenen?
Manche mögen sich etwas davon versprechen, einen Teil der mit den Corona-Maßnahmen Unzufriedenen für sich zu gewinnen. Doch das Thema hat im Vergleich etwa zur Migrationsfrage nicht genügend Mobilisierungskraft, zumal die „Maskenzeit“ nicht ewig anhält. Was daher ganz unwahrscheinlich ist: Dass sich aus dem Unmut über die Schutzmaßnahmen eine gewaltige Protestbewegung bildet, die gar in eine neue Partei mündet.
Könnte es sein, dass sich 2015 – Flüchtlingskrise – und 2020 – Corona-Proteste – ähnlich entwickeln, also dass aus einer Bewegung der Unzufriedenen eine rechtspopulistische Strömung erwächst?
Gerade in den neuen Bundesländern mit einer eher schwachen Parteiidentifikation kann das Wahlverhalten schnell umschlagen. Wie sämtliche Meinungsumfragen nach dem Ausbruch des Coronavirus belegen, gilt das allerdings nicht nur für den Osten. Solche Krisenzeiten sind die Stunde der Exekutive. Momentan gewinnt im Bund die bestimmende Union deutlich, der Juniorpartner SPD legt leicht zu, während die anderen Parteien mehr oder weniger „einbrechen“, darunter nicht zuletzt die AfD. Ihre Verluste in den Umfragen gehen zudem stark auf die Entscheidung des Verfassungsschutzes zurück, die innerparteiliche Strömung des „Flügels“ als extremistisch zu klassifizieren. Keiner weiß allerdings, wie sich die AfD in einem Jahr präsentiert. Das „Superwahljahr“ 2021 mit der Wahl im Bund und in sechs Ländern bringt es an den Tag.
Ein Blick in die Zukunft: Wie wird unser Parteiensystem nach dem Ende der Corona-Krise aussehen?
Die Antwort, wie das deutsche Parteiensystem nach dem Ende der Schutzmaßnahmen aussieht, hängt zum einen stark davon ab, wie lange diese sich hinziehen werden, zum anderen wesentlich davon, ob die Bevölkerung den Eindruck hat, die Regierung habe das „gesundheitliche Problem“ überzeugend gelöst. Wird dies bejaht, kommt es wohl den im Bund regierenden Parteien zugute; wird dies nicht bejaht, müssen sie mit einer „Abstrafung“ rechnen. Aber das ist nur ein Aspekt: Denn offenkundig dürfte sich in „Nach-Corona-Zeiten“ eine wirtschaftliche Rezension ausbreiten. Und diese dürfte nicht unbedingt den großen Regierungsparteien nützen. Letztlich ist das jedoch Kaffeesatzleserei. Viele Faktoren, über deren Gewichtung wir jetzt noch nichts hinreichend Sicheres wissen, spielen eine Rolle. Was wir jedoch wissen: Die AfD ist in der Krise!