Zehn Wochen hat die Fußball-Bundesliga wegen Corona pausiert. Und hat währenddessen nie genau gewusst, wann es wieder losgeht. So wie man jetzt auch nur hoffen kann, den Zeitpunkt des Saisonendes zu kennen. Da stellen sich die Fragen: Ist das noch der Fußball von vorher? Und ist er noch gerecht?
Der Vorwurf von der Wettbewerbsverzerrung ist ein großer. Und er ist in den vergangenen Wochen zu oft zu schnell und zu vorsorglich benutzt worden. Warum viele Vereinsvertreter aus dem Fußball ihn benutzt haben, ist aber augenscheinlich. Denn bei vielen ist die finanzielle Sorge groß. Kämen zu den aktuellen Verlusten durch fehlende Zuschauer-Einnahmen auch noch ein Abstieg, ein verpasster Aufstieg oder das unerwartete Verpassen des Europacups, wäre das für viele ein herber Schlag. Außerdem bedeutet angesichts der Staffelung des TV-Geldes jeder Tabellenplatz in der Bundesliga bares Geld und macht teilweise mehrere Millionen aus.
Und Fakt ist: Die Bundesliga-Tabelle wird sicher am Saisonende nicht so aussehen, wie sie ohne die Corona-Pause ausgesehen hätte. Dafür gibt es zu viele Variablen. Die einen Vereine haben wegen der regionalen Unterschiede früher mit dem Mannschafts-Training beginnen dürfen als andere. Die einen haben eine stärkere Bank und profitieren eher von der neuen Möglichkeit der fünf statt drei Wechsel. Bei manchen Vereinen kommen verletzte Spieler zurück, die bei einem normalen Saisonende am 17. Mai in dieser Spielzeit kaum oder nicht mehr zurückgekommen wären – allen voran Torjäger Robert Lewandowski beim FC Bayern. Die Vereine leiden unterschiedlich unter dem Fehlen der Zuschauer, haben dabei teilweise eine unterschiedliche Anzahl an Geister-Heimspielen und natürlich unterschiedlich starke Gegner. Und zu guter Letzt könnte es auch sein, dass manche Teams durch Corona-Fälle betroffen sind und andere nicht.
Neue Möglichkeit von fünf statt drei Wechsel
Das Gute ist, wie immer in solchen Fällen: Niemand weiß, wie die Saison verlaufen wäre, wenn sie unter den gewohnten Umständen weitergegangen wäre. Deshalb ist das Ganze eine theoretische Diskussion, bei der sich jetzt schon vorhersagen lässt: Sie wird sich nach ein oder zwei Wochen beruhigen. Um am Ende wieder richtig Fahrt aufzunehmen, wenn der eine oder andere Verein sein Ziel verpasst hat und es auf die Umstände schieben wird. Klarer ist aber auch: Wenn die Saison irgendwie zu Ende gespielt werden kann mit Geisterspielen, dann ist das Tabellenbild auf jeden Fall fairer als es bei jedem anderen Szenario wäre.
Mats Hummels stellte jedenfalls direkt klar: „Für mich ist das Ganze keine Wettbewerbsverzerrung. Nullkommanull. Es ist einfach eine andere Situation.“ Und das obwohl sein Verein Borussia Dortmund ausgerechnet in den ersten beiden Geister-Heimspielen die Spiele der Saison ohne Fans bestreiten musste: Das Derby gegen Schalke 04 und den deutschen Klassiker gegen Bayern München.
Anders sieht es vor allem Zweitligist Dynamo Dresden. Just als alle Teams ins Mannschafts-Training einstiegen, mussten die Sachsen wegen zwei Corona-Fällen geschlossen in Quarantäne. „Den Spielern fehlen 14 Tage Training, was das Verletzungsrisiko erhöht. Zudem erhöht sich der Druck auf Dynamo als Tabellenletzten noch einmal, wenn die Konkurrenten in der Zeit den Vorsprung vergrößern, in der Dresden nicht spielen darf“, sagte Ulf Kirsten, Vereins-Legende und früherer Nationalstürmer, der „Sport Bild“. Und dann fügte er den magischen Satz an: „Das ist Wettbewerbsverzerrung.“
Die Dresdner verloren durch höhere Gewalt zwei Wochen Training. Doch manche Vereine durften alleine deshalb später zusammen trainieren als andere, weil es in ihren Bundesländern später erlaubt war. Florian Kohfeldt, Trainer beim abstiegsbedrohten SV Werder Bremen, sagte in einer offiziellen Mitteilung des Vereins: „Wir befinden uns in dem Spannungsfeld, dass Mitkonkurrenten an anderen Standorten bereits seit Längerem im Gruppentraining arbeiten.“ Und fügte bemüht diplomatisch an: „Wir hoffen, hierbei keinen Wettbewerbsnachteil zu erleiden.“ Dem trat wiederum Frankfurts Sportvorstand Fredi Bobic entgegen. „Von einem Wettbewerbsvorteil sind wir weit entfernt“, sagte er. „Das Thema wurde auch etwas hochgespielt. Das Training findet ja nicht in Mannschaftsstärke statt. Die Jungs spielen sich nur den Ball zu und stehen weit genug auseinander.“
„Das Thema wurde auch etwas hochgespielt“
Wie dem auch sei. Weil wir diese Fragen nie klären können, widmen wir uns doch lieber einer anderen, mindestens ebenso spannenden: Wie wird sich denn der Fußball als solches ändern? Im Vorfeld haben viele gemutmaßt: Es werde weniger Fouls und weniger Schwalben geben. Aber auch weniger gelaufen werden.
Die Statistiken zumindest des ersten Spieltags stützen das nur in manchen Teilbereichen. Die Laufleistungen seien „unglaublich hoch gewesen“, konstatierte Trainer Jürgen Klopp vom Champions-League-Sieger FC Liverpool. „Die Spiele waren wirklich gut“, erklärte Klopp. Er habe „super Tore, enge Partien und richtigen Kampf“ gesehen. Freiburgs Trainer Christian Streich stellte fest: „Das Drumherum war richtig komisch, aber das Spiel nicht.“ Die Daten bestätigen das Augenmaß der beiden Trainer-Experten. Die durchschnittliche Laufleistung der Teams lag bei 116 Kilometern pro Mannschaft und Spiel – und damit genau auf dem Niveau der Vor-Corona-Zeit. Es wurden sogar mehr Sprints und Tempoläufe verzeichnet. Was wiederum an mehr frischen Spielern durch die bis zu fünf Wechsel liegen kann. Am ersten Spieltag nach dem Re-Start reizten zehn der 18 Vereine gleich das komplette Kontingent aus.
Auffällig war, dass die effektive Spielzeit von 55,6 auf 57,7 Minuten markant anstieg. Der Wert ist vor allem deshalb so bemerkenswert, weil weniger Bälle und Balljungen am Spielfeldrand zur Verfügung stehen. Dass der Ball schneller zurück aufs Feld fliegt, ist also eher unwahrscheinlich. Das Zeitspiel, sei es beim Liegenbleiben nach Fouls als auch beim Ausführen von Standards, scheint deutlich gesunken zu sein.
Es gab zunächst auch eine geringe Fehlpass-Quote, was auf mehr Sicherheit durch geringen Druck aus dem Umfeld schließen ließe. Allerdings war der Anstieg von 83 auf 84,4 Prozent noch nicht sehr markant. Markanter war die deutlich geringere Zahl an Torschüssen, vor allem in der Endphase. Hier liegt der Schluss nahe, dass die Schluss-Offensive vieler Teams ohne einpeitschende Fans weniger Wucht hat.
DFB-Schiedsrichterchef Lutz Michael Fröhlich hatte nach dem ersten Spieltag schon einen größeren Respekt gegenüber Gegenspielern und Schiedsrichtern ausgemacht. „In den Spielen haben wir viele Zweikämpfe gesehen, gefühlt fast schon auf einem normalen Niveau, aber auch eine große Akzeptanz, wenn die Schiedsrichter ihre Entscheidungen getroffen hatten“, sagte er. Alles sei „doch deutlich gestenärmer und mit sichtbar mehr Respekt voreinander“ abgelaufen, sagte Fröhlich bei dfb.de. „Mein erster Eindruck ist, dass sich alle ganz ursprünglich auf den Sport und ihre Aufgaben im Spiel fokussiert haben.“
Münchner Felix Brych durfte Augsburg pfeifen
Gerade bei den Schiedsrichtern gibt es aber eine prägnante Änderung, die im Ursprung nachvollziehbar ist, aber doch zumindest Diskussionen Tür und Tor öffnet. Bisher durften Schiedsrichter nie Spiele pfeifen, an denen Mannschaften aus ihrem Verband beteiligt waren. Ja nicht einmal Partien von Mannschaften, die mit Teams aus ihrem Verband in direkter Konkurrenz standen. Bei einem Meister-Fernduell zwischen den Bayern und Dortmund würde beispielsweise nie ein Referee aus Bayern ein BVB-Spiel leiten. Nun durfte der Münchner Felix Brych ein Heimspiel des FC Augsburg leiten, nachweislich einem Verein aus dem bayerischen Verband. Doch da die Schiedsrichter derzeit erst am Spieltag anreisen – mit dem Auto und getrennt von ihren Assistenten –, gilt die Regel mit Blick auf kürzere Wege nicht mehr. Die „Landesverbandsneutralität der Schiedsrichter ist aufgehoben“, heißt es offiziell. Bisher sorgte das noch nicht für Verschwörungs-Theorien. Aber man wird sicher die Uhr danach stellen können, bis der erste Funktionär nach einem Spiel mit solcher Ansetzung mutmaßen wird, dass „jeder andere Schiedsrichter den Elfmeter niemals gepfiffen hätte“.
Unter dem Strich scheint aber alles weniger berechenbar. Weswegen Kölns Trainer Markus Gisdol auch nach Wiederaufnahme der Saison feststellte: „Wir wissen nicht, wie sich die Rahmenbedingungen verändern.“ Schon zuvor hatte Gisdol prophezeit: „Bei jeder Mannschaft wird diese Pause etwas ausgelöst haben. Manche werden Defizite bereinigt haben. Andere werden Defizite haben, die sie vorher nicht hatten.“