Der vor 100 Jahren geborene Marcel Reich-Ranicki war nicht nur der bislang bedeutendste Literatur-Kritiker der Bundesrepublik, er stieg dank schauspielerischer Qualitäten im „Literarischen Quartett“ auch zum gefeierten Medien-Star auf.
Das Alfred Kerr in der Kaiserzeit und der Weimarer Republik war, sollte der am 2. Juni 1920 in der polnischen Stadt Wloclawek geborene Marcel Reich-Ranicki nach dem Zweiten Weltkrieg für die Bundesrepublik werden: der am meisten bewunderte und gleichzeitig gefürchtete Literaturkritiker seiner Tage. 15 Jahre lang, von 1973 bis 1988, war er für den wichtigsten Zeitungs-Literaturteil des Landes verantwortlich. Und nachdem der damals 68-Jährige von der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ in den vermeintlichen Ruhestand geschickt worden war, begann seine zweite große Karriere – im Fernsehen als Moderator des vom ZDF ausgestrahlten „Literarischen Quartetts“.
Mit dieser Sendung gelang ihm das Kunststück, 13 Jahre lang auf unterhaltsame Weise insgesamt 385 hochliterarische Bücher einem ganz breiten Publikum zugänglich zu machen. Gleichzeitig konnte er so seinen persönlichen Bekanntheitsgrad in schwindelerregende Höhen steigern. Daneben hat er unzählige Bücher über Literatur geschrieben, wurde mit seiner 1999 veröffentlichen, 1,2 Millionen Mal verkauften BiograFie „Mein Leben“ sogar selbst zum Bestseller-Autor und hatte eine Anthologie herausragender Werke der deutschsprachigen Literatur namens „Marcel Reich-Ranickis Kanon“ zwischen 2002 und 2006 herausgegeben, den er persönlich als eine Art Lebenswerk betrachtet hatte.
Neben Alfred Kerr nannte er den Wiener Kritiker Alfred Polgar und den Berliner Kurt Tucholsky als seine Vorbilder, in deren Nachfolge es ihm gelang, sich gegen Konkurrenten im Kampf um die hiesige Krone der Literaturkritik wie Joachim Kaiser, Walter Jens, Hans Mayer oder Fritz J. Raddatz zu behaupten. Seine großen Buchbesprechungen waren selbst Meisterwerke ihres Metiers, „dramaturgisch geschickt strukturiert wie Kompositionen“, schrieb einmal die „Welt“, „in denen es zwei Leitmotive gibt: Humor und Kompetenz.
Und einen Grundton: Verständlichkeit. Die Eitelkeit eines Bildungshubers hatte Reich-Ranicki – bei aller ausgeprägten Eitelkeit – nie. Fremdworte fasste er mit spitzen Fingern an.“ Alles stets vor dem Hintergrund, für ein möglichst breites Publikum und weniger für die Anerkennung durch die eigene Zunft zu schreiben.
Der großen Macht des Kritikers innerhalb des Literaturbetriebs war sich Reich-Ranicki aber stets bewusst: „Die Kritik wirkt, wenn sie redet, und sie wirkt, wenn sie schweigt. Sie belehrt und erzieht, verführt und demoralisiert den Schriftsteller auch dann, wenn sie sich nur an das Publikum wendet oder wenn er entschlossen ist, sich ihrem Einfluss zu entziehen.“
Öffentliche Kontroversen mit Grass und Walser
Seine Lieblingsautoren waren Johann Wolfgang von Goethe und Thomas Mann. Seine große Leidenschaft waren ohnehin die klassischen, realistischen Erzähler, die Gesellschaftsromane des 19. Jahrhunderts und die bedeutenden belletristischen Werke amerikanischer Autoren des 20. Jahrhunderts. Mit avantgardistischer, postmoderner oder theorielastiger Literatur hatte er nichts am Hut. Alles Rätselhafte, mit der Sprache kunstvoll Jonglierende, war ihm ein Graus. Seine Bevorzugung des realistischen Erzählens wurde ihm häufiger zum Vorwurf gemacht, was sich in der strikten Ablehnung von Autoren wie Robert Musil, Claude Simon oder Alain Robbe-Grillet bis hin zu Arno Schmidt, Peter Handke, Alexander Kluge oder Elfriede Jellinek dokumentierte.
Legendär wurden auch seine öffentlich ausgetragenen Kontroversen mit Schriftstellern wie Martin Walser, Max Frisch oder Günther Grass. Walser, der in seinem 2002 publizierten Roman „Tod eines Kritikers“ ein ziemlich fragwürdiges Zerrbild von Reich-Ranicki zeichnete, wurde von Reich-Ranicki nur als Essayist geschätzt. Die Fehde mit Grass wurde durch Reich-Ranickis später revidierten Verriss der „Blechtrommel“ begründet und sollte anlässlich der Negativ-Rezension des Werkes „Ein weites Feld“ wieder auflodern. Den als Romancier von ihm ungeliebten Max Frisch hatte Reich-Ranicki, ebenso wie übrigens Heinrich Böll, Graham Greene oder John Updike, der SchwedischeN Akademie für die Verleihung des Literatur-Nobelpreises vorgeschlagen.
Mit Glaubensdingen hatte der als Marceli Reich geborene Sohn eines jüdisch-polnischen Kaufmanns und einer ursprünglich aus Berlin stammenden jüdischen Mutter zeitlebens wenig zu tun. Er besuchte zunächst eine deutsche Schule in seiner Heimatstadt, wurde nach dem Bankrott der Firma seines Vaters im Alter von neun Jahren zu Verwandten nach Berlin geschickt, wohin ihm vier Monate später seine Familie folgte. Nach dem Abitur 1938 wurde sein Immatrikulations-Antrag für das Fach Germanistik von der Berliner Friedrich-Wilhelm-Universität wegen seiner Religionszugehörigkeit abgelehnt.
Der vielbelesene und kulturbegeisterte junge Mann, der sich in die Werke von Schiller, Kleist, Tolstoi und Flaubert verliebt und im Theater oder in Konzerthäusern ein glühender Bewunderer von Gustav Gründgens oder Wilhelm Furtwängler geworden war, wurde wenig später von den Nazis nach Polen abgeschoben. Nach dem Einmarsch der Wehrmacht wurde er zur Umsiedlung ins Warschauer Ghetto gezwungen, wo er seine spätere Frau Teofila Langnas kennenlernte und im Judenrat als Übersetzer tätig war. Kurz vor der Deportation ins KZ gelang dem jungen Ehepaar die Flucht aus dem Ghetto und der Unterschlupf bei einer polnischen Familie. Seine Eltern und sein Bruder kamen hingegen in NS-Vernichtungslagern ums Leben.
Eltern starben beide im Konzentrationslager
Nach der Befreiung Polens durch die Rote Armee wurde er Mitglied in der Miliz seines Geburtslandes und trat im März 1945 in die Kommunistische Partei Polens ein. Anfang 1946 war er in Berlin als Mitglied der Polnischen Militärmission und für den polnischen Auslandsnachrichtendienst tätig. Auch als polnischer Konsul in London, wo er den Namen Marceli Ranicki annahm, zog er 1948/1949 bis heute nicht gänzlich aufgeklärte Strippen im geheimdienstlichen Auftrag. Unter dem Vorwurf „ideologischer Entfremdung“ wurde er von der Themse abberufen, all seiner Funktionen entbunden und aus der KP ausgeschlossen. Nach einigen Wochen Arrest wurde ihm erlaubt, in polnischen Zeitungen über deutsche Literatur zu schreiben.
Am 21. Juli 1958 nutzte er eine Studienreise in die Bundesrepublik zur Übersiedlung nach Deutschland, seine Frau hatte zu diesem Zweck gemeinsam mit dem Sohn Andrzej kurz zuvor einen Kurzurlaub in London angetreten. Heinrich Böll hatte ihm durch eine Bürgschaft zu einem Visum verholfen. Die Familie ließ sich in Frankfurt am Main nieder, wo Marcel Reich-Ranicki, wie er sich nun nannte, dank Fürsprache von Siegfried Lenz erste Artikel in der „Welt“ und der „FAZ“ veröffentlichen und Kontakte zu Rundfunksendern aufbauen konnte. Die Teilnahme an Tagungen der „Gruppe 47“ machten ihn so bekannt, dass ihn „Die Zeit“ ab Januar 1960 als ständigen Literaturkritiker einstellte, was einen Umzug nach Hamburg nötig machte. Schon in den 13 Jahren bei der „Zeit“ bis 1973 stieg Reich-Ranicki zur literaturkritischen Instanz der Bundesrepublik auf, schon damals wurde ihm mit den Etiketten „Großkritiker“ oder „Literaturpapst“ gehuldigt.
In Hamburg machte er die Bekanntschaft mit dem NDR-Redakteur und späteren „Hitler“-Biografen Joachim C. Fest, der ihn nach seiner Ernennung zum „FAZ“-Herausgeber nach Frankfurt locken konnte. Reich-Ranicki machte den „FAZ“-Literaturteil schnell zur buchfreundlichsten Zeitung der Republik und durfte zudem ab 1974 in jeder „FAZ“-Samstagsausgabe auch noch die vom ihm bis zu seinem Lebensende am 18. September 2013 betreute „Frankfurter Anthologie“ veröffentlichen, bei der es sich um eine Sammlung deutschsprachiger Gedichte samt Reich-Ranickis Interpretationen handelte.
Bambi und Goldene Kamera für TV-Sendung
Nachdem er die Leitung des „FAZ“-Literaturteils altersbedingt infolge der ungeschriebenen Gesetze der Zeitung niederlegen musste, war vielfach ein Ende der Ära der Literaturkritik Reich-Ranickis befürchtet worden. Doch der Ruheständler überraschte alle mit der Etablierung des „Literarischen Quartetts“. Das Konzept, neue Bücher in einem Streitgespräch vor einem Millionenpublikum zu präsentieren, machte Reich-Ranicki zum Fernsehstar und brachte ihm 1989 einen „Bambi“ und 2000 eine „Goldene Kamera“ ein. Nie zuvor hatte ein Kulturjournalist auch nur einen vergleichbar großen Bekanntheitsgrad erreicht. Das brachte Reich-Ranicki Ehrendoktor-Würden von neun Universitäten im In- und Ausland sowie 25 bedeutende Literaturpreise und Auszeichnungen. Darunter das große Verdienstkreuz mit Stern der Bundesrepublik oder den Henri-Nannen-Preis.
Den Deutschen Fernsehpreis hatte er 2008 mit einem berühmten Bühnenauftritt zurückgewiesen. Reich-Ranicki hatte im „Literarischen Quartett“ einen verblüffenden Unterhaltungswert offenbart. Wobei er in meist donnerndem Tonfall ein gelispeltes „S“ und ein rollendes „R“ zu seinen persönlichen Markenzeichen machte. Wehe dem Autor, wenn er eine Buchbesprechung im TV mit seinem berühmten Satz begann: „Ich habe mich bei der Lektüre gelangweilt.“