Die Pandemie hat tiefe Spuren hinterlassen. Europa hat die Chance, sich in der Krise neu aufzustellen und zu gemeinsamer Stärke zu finden. Ideen und Pläne dazu liegen auf dem Tisch.
Es geht um Summen, die bislang nicht vorstellbar waren. Aber es geht nicht nur ums Geld. Hinter den gigantischen Beträgen, die derzeit als Vorschläge zur Überwindung der Krise auf dem Tisch liegen, stehen gleichzeitig inhaltliche Konzepte, die anmuten, als wolle Europa dem Spruch, wonach in jeder Krise auch eine Chance liegt, zu neuer Geltung verhelfen.
Das Dreigestirn Macron, Merkel und von der Leyen ist nach Kräften bemüht, Europa aus der Krise heraus neu aufzustellen. Dabei setzen der französische Präsident, die deutsche Bundeskanzlerin und die EU-Kommissionspräsidentin auf eine doppelte Strategie: Lehren aus der Krise selbst ziehen und gleichzeitig eine neue Stärke aufbauen im schon länger andauernden Ringen um eine neue globale Ordnung. Für beide Ambitionen stehen die Initiativen eines Wiederaufbauplans (Merkel/Macron) und „New Generation EU" (von der Leyen) wie auch eine wiederbelebte deutsch-französische Achse und eine EU-Kommission mit Führungsambition. Die deutsch-französische Initiative zu einem Wiederaufbaufonds für das von Corona erschütterte Europa war für viele eine Überraschung. Zu verstehen ist sie nicht nur aus der akuten Krisensituation, sondern auch als ein überaus handfestes Ergebnis einer zähen Vorarbeit.
Er hat es immer wieder versucht. Ein ums andere Mal hat sich Emmanuel Macron derart ins Zeug gelegt, dass man meinen konnte, sein ganzes politisches Agieren stehe unter dem einzigen Motto: Make Europe Great. Ein ehrgeiziges Projekt mit langem Anlauf.
Bald drei Jahre ist es her, dass der französische Präsident mit flammender Rede für einen neuen europäischen Aufbruch warb. Die Begeisterung nach seiner legendären „Sorbonne-Rede" (2017) brachte ihm ein Jahr später die anerkannteste europäische Auszeichnung, den Aachener Karlspreis (2018), ein. Angela Merkel hat den übrigens genau ein Jahrzehnt zuvor, 2008, zugesprochen bekommen. Der konkrete Fortschritt in Europa glich dagegen weiter eher dem einer Schnecke, die zudem gelegentlich auf Umwegen irrt.
Zwei Pläne, aber eine Richtung für Europa
Immerhin setzte der „Aachener Vertrag" von 2019 als Fortschreibung des Élysée-(Freundschafts-)Vertrags einen deutlichen Akzent zwischen Deutschland und Frankreich.
Ein weiteres Jahr später, zu Beginn der Pandemie-Krise, schien vieles so, als sei das alles geduldiges Papier, interessant allenfalls für Historiker. Statt Zusammenarbeit zu vertiefen, zogen massive Grenzkontrollen auf, wo Passieren nur in definierten Ausnahmefällen überhaupt noch möglich war. Kleinere Übergänge wurden geschlossen. Jahrzehnte gemeinsamer, freundschaftlicher Entwicklungen wurden von heute auf morgen abgeschnitten. Das Ausmaß der Proteste hat viele überrascht. Sie haben mehr über die gelebte Wirklichkeit und das Empfinden der Menschen in den Grenzregionen ausgedrückt, als es so manch salbungsvolle Rede vermocht hätte.
Inzwischen öffnen sich die Grenzen wieder – und das ganze Ausmaß der Pandemiefolgen wird sichtbar.
Der Vorstoß von Emmanuel Macron und Angela Merkel war unter vielen Gesichtspunkten ein diplomatisches Meisterstück. Angefangen damit, dass beide überhaupt in vergleichsweise kurzer Zeit dazu in der Lage waren, wo die Alleingänge der Mitgliedsländer zur Eindämmung der Pandemie sich in den Lockerungsphasen noch fortsetzen.
Dass es weit mehr als „nur" ein 500-Milliarden-Euro Plan war, dass dahinter auch ein strategisches Konzept steht, spricht dafür, dass über zentrale Grundzüge einer Entwicklung der EU weitgehend Übereinstimmung herrscht, was wiederum vermutlich auf mittlere Sicht mindestens ebenso viel wert ist wie der gigantische Euro-Milliardenberg. Möglicherweise sogar mehr.
Das „New Generation EU"-Konzept von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen zeichnet im Wesentlichen dieselben großen Linien. Es ist wohl keine unzulässige Spekulation, davon auszugehen, dass der Merkel-Macron-Vorstoß nicht völlig isoliert und an der (deutschen) Kommissionspräsidentin vorbei formuliert wurde.
Projekt für eine Generation
Natürlich lassen Vorschläge dieser finanziellen und strategischen Dimension bekannte Fronten entlang von Himmelsrichtungen und Mentalitäten wieder aufbrechen. Debatten darum sind ebenso notwendig, wie sie auch unter einem enormen Einigungsdruck stehen. Denn Europa sieht sich diesmal gleich doppelt unter Druck: dem inneren in der Bewältigung der Krise und dem äußeren einer sich auflösenden alten Weltordnung.
Will sich der „alte" Kontinent nicht selbst abmelden, mit der Folge einer Verzwergung im globalen Konzert, stehen die Mitglieder wie auch die europäischen Institutionen in einer Schicksalsgemeinschaft unter zwingendem Erfolgsdruck.
Das zweite Halbjahr bietet mit seinen besonderen Rahmenbedingungen – und den schon vor der Pandemie bekannten Herausforderungen – eine nahezu ideale Plattform: Deutschland hat (turnusgemäß) die EU-Ratspräsidentschaft, in der ohnehin eine Lösung in den verfahrenen EU-Haushaltsberatungen auf der Agenda gestanden hatte. Im Übrigen war auch ein neuer Anlauf angedacht, Prozesse und Entscheidungen in der EU effektiver und durchsetzungsfähiger zu gestalten. Stichwort, unter anderem, Einstimmigkeitsprinzip. Gestützt auf eine wiedererstarkte deutsch-französische Gemeinsamkeit und eine selbstbewusste EU-Kommission mit Ursula von der Leyen und Frans Timmermans, den Vorstreitern eines europäischen Green Deals, sind zumindest die Konstellationen geeignet, substanzielle Durchbrüche zu erreichen.