Pläne und Ideen, Europa gestärkt aus der Krise zu führen, liegen auf dem Tisch. Verhandlungen darüber laufen auf Hochtouren. Peter Strobel, ab Juli Vorsitzender der Europaministerkonferenz, über Notwendigkeiten, Einsichten und Perspektiven.
Herr Strobel: Angela Merkel und Emmanuel Macron haben mit ihrem Wiederaufbauplan die europäische Debatte belebt. Ist die neue deutsch-französische Gemeinsamkeit mehr Überraschung oder nicht längst überfällig gewesen?
Sie ist keine Überraschung. Immer, wenn Deutschland und Frankreich sich in grundsätzlichen Themen einig waren, ist etwas Gutes auf den Weg gebracht worden. Das ist hier ebenfalls der Fall. Und das zeigt sich doch schon darin, dass Ursula von der Leyen das Merkel-Macron-Paket sogar noch erweitert hat. Wir haben in der Krise gesehen, wo es Defizite gibt und welche Länder jetzt am meisten Hilfe brauchen. Und da sind Maßnahmen, insbesondere für die Südländer, richtig und wichtig.
Die Erwartungshaltungen sind einerseits groß, andererseits gibt es viel Skepsis. Die Gemengelage für eine Durchsetzung insgesamt erscheint hochkomplex.
Wir müssen jetzt insgesamt darauf achten, niemanden zu überfordern. Aber wir müssen auch mit diplomatischem Geschick an die Sache herangehen. Am Ende darf es nicht die einen geben, die nur Hilfen bekommen, und die anderen, die nur Hilfen geben. Das würde der Solidargemeinschaft der EU insgesamt nicht guttun. Jeder muss davon profitieren. Auch wenn klar ist, dass das in unterschiedlichem Maße der Fall sein wird.
Was machen wir mit den „Sparsamen Vier"?
(lacht) Zunächst einmal können wir froh sein, dass es neben Deutschland auch andere Länder gibt, die darauf achten, dass es in der EU finanzwirtschaftlich diszipliniert zugeht. In der Rückbetrachtung hat man gesehen, dass die Maßnahmen, die wir in Deutschland treffen konnten, ihre Ursache auch darin finden, dass wir vorher ordentlich gewirtschaftet haben und unsere Haushalte in Ordnung gebracht haben. Sonst wären die jetzt getroffenen Hilfsmaßnahmen unter anderem für die Unternehmen in der Form gar nicht möglich gewesen.
Auf europäischer Ebene ist das Thema der Vergemeinschaftung von Schulden im Moment aktueller denn je. Und wir müssen uns – auch mit Blick auf die vorgeschlagenen Maßnahmen der Kommissionspräsidentin – fragen:
Leistet man an der Stelle Hilfe, wo sie dringend nötig ist – beispielsweise in Form eines großen Programms für alle EU-Staaten? Das würde ich immer mit „Ja" beantworten. Was jetzt auf dem Tisch zur Diskussion liegt, ist ein Sonderprogramm für einen Sonderfall und darauf auch eine gute Antwort.
Hilfe für die besonders betroffenen Länder vor allem im Süden hat auch Begehrlichkeiten bei den osteuropäischen Ländern geweckt. Läuft das auf einen Deal hinaus?
Wenn man jetzt ein solches Hilfspaket auflegt, dann muss es auch dort ankommen, wo es wirklich gebraucht wird. Dort, wo die Corona-Pandemie zu besonderen Verwerfungen geführt hat, muss dieses Programm besonders wirken. Deswegen halte ich relativ wenig davon, irgendwelche Deals einzugehen. Entweder man hat jetzt die Kraft zu sagen: Das ist eine gemeinsame Aufgabe der EU, dort zu helfen, wo die Not am größten ist – oder man muss dann nach anderen Wegen suchen. Ich warne davor, den Versuch zu unternehmen, für jeden etwas zurechtzuzimmern und zurechtzuschneiden. An dieser Stelle ist es eine Gemeinschaftsaufgabe, und dann zeigt sich auch, ob die EU eine Gemeinschaft ist.
Zwingt nicht das Einstimmigkeitsprinzip geradezu zu Kompromissen?
Man wird sicherlich die eine oder andere Interessenlage nicht von der Hand weisen können. Dass die osteuropäischen Länder die Agrarpolitik als ein wichtiges Element ihrer Arbeit sehen, ist klar. Diesen Interessenausgleich braucht es aber über den europäischen Haushalt. In dieser aktuellen Frage kann es nur um die Corona-Folgen gehen, und da muss man jetzt zusammenstehen.
Das klingt nach einem freundlichen Appell. Reicht das?
Die Notwendigkeit, Hilfestellungen zu leisten, ist da. Wenn die vier sparsamen Länder sagen, sie könnten sich eher vorstellen, dass das Ganze auf einer kreditbasierten Basis steht und nicht als Zuschussvariante, dann kann ich mir am Ende auch vorstellen, dass es etwas Kombiniertes gibt; sozusagen einen Teil Zuschüsse und einen Teil als Kreditprogramm. So wie es Ursula von der Leyen am Mittwoch vorgestellt hat. Darüber wird dann verhandelt werden müssen. Aber es wird sich keiner der Hilfe entziehen können. Ich bin überzeugt, dass Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen ihre diplomatischen Möglichkeiten nutzen wird, sodass am Ende ein Paket steht, das von allen EU-Staaten getragen wird.
Viele sagen nach den früheren Erfahrungen: Das ist die letzte Chance für Europa. Entweder es klappt jetzt – oder das war’s. Eine zu düstere Einschätzung?
Europa spielt sich nicht nur in Geld ab, Europa ist auch eine Wertegemeinschaft. Deswegen würde ich es nicht so stark reduzieren. Es ist ein wichtiger Punkt, an dem man die Bereitschaft der Länder abprüfen muss, was die solidarische Frage betrifft. Es ist aber nicht allentscheidend. Ich mache mir mindestens so viel Kummer über die Rechtsstaatlichkeit in einigen Nationalstaaten. Trotzdem glaube ich, ist es ein Scheideweg, an dem man sehen wird, wie ernst es die einzelnen Mitgliedsstaaten es mit Europa meinen und wie groß die Bereitschaft ist, etwas einzubringen. Das sind schon entscheidende Fragen.
Vieles erinnert jetzt an Diskussionen über die Flüchtlingsfrage, in der es ja eher klägliches Versagen gab. Droht etwas Vergleichbares?
Zu den früheren Diskussionen gibt es Gerichtsentscheidungen. Sie sagen, dass die Gegenwehr von Mitgliedsstaaten nicht rechtens war. Das ist ja auch eine Aussage, die in die Zukunft gerichtet ist. Das bedeutet: Die Erwartungshaltung in vergleichbaren Situationen ist natürlich, dass die EU gleichgerichtet arbeiten muss. Jeder nach seiner Leistungsfähigkeit, das ist klar. Aber klar ist auch: Wenn es um humanitäre Fragen geht, dann muss die EU mit einer Stimme sprechen und mit einer Entscheidung zusammenstehen.
Die Frage heute geht in die gleiche Richtung. Ist man bereit und in der Lage, gemeinsame Entscheidungen zu treffen? Ist das eine oder andere Land bereit, auch eine größere Last zu tragen – wie es für Deutschland der Fall wäre? Das wird eine große Hausnummer sein. Ich habe trotzdem das Gefühl, dass es in Deutschland einen politischen Konsens dafür gibt. Zumal deutsche EU-Zahlungen über den Außenhandel an uns zurückfließen!
Aber wir stellen in diesem Zusammenhang ebenso die Frage, ob es auch eine föderale Solidarität gibt. Etwa beim Thema Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse und Verschuldung der Kommunen. Da bin ich der Meinung, dass wir beides im Auge behalten müssen. Gelder der EU können dazu dienen, vor Ort zu helfen und damit die europäische Idee konkret zu machen.
Reaktionen auf die deutsch-französische Initiative sagen, Merkel habe Einsehen gezeigt, dass vorher einiges schief gelaufen ist, und ist dann über den eigenen Schatten gesprungen. Eine zutreffende Einordnung?
Das glaube ich nicht. Deutschland hat bewiesen, dass es in der Lage ist, sowohl im Gesundheitssystem als auch wirtschaftlich solchen Krisen entgegenzutreten. Insofern glaube ich, sind nicht allzu viele Fehler passiert. Dass die Kontrollen an den Grenzen zu Verstimmungen geführt haben, lässt sich nicht von der Hand weisen. Natürlich war das so, besonders in den Regionen, wo man gewohnt ist, zusammen über die Grenze hinweg zu arbeiten und zu leben. Die Entscheidung vom Bund hat natürlich zu Verstörungen geführt. Wenn man die Frage stellt, ob man dadurch die deutsch-französische, die deutsch-luxemburgische oder andere grenzüberschreitende Freundschaften infrage gestellt hat, sage ich ganz klar: nein. Denn wir haben auch in dieser Phase immer im Dialog gestanden, immer nach Wegen gesucht, wie wir unsere Zusammenarbeit in dieser speziellen Situation fortsetzen können. Die Lehre muss für den Fall, dass es künftig zu solchen pandemischen Ereignissen kommt, sein, dass man regional besser aufgestellt ist. Also ist die Konsequenz, Sicherungs- und Hilfsmaßnahmen künftig stärker grenzüberschreitend zu denken.
Ist der Vorstoß Merkel-Macron der Versuch, den deutsch-französischen Motor für Europa wieder zum Laufen zu bringen – oder haben sich die Zeiten inzwischen so geändert, dass Vergleiche mit der Zeit der deutsch-französischen Achse nicht mehr gut zu ziehen sind?
Doch, unbedingt. Deutschland und Frankreich sind die bedeutendsten Volkswirtschaften in der EU. Wenn Deutschland und Frankreich sich einig waren, ist es auch meist gelungen, die anderen zu begeistern und mitzunehmen. Der Vergleich mit dem Motor ist vielleicht sogar aktueller denn je. Dieser Plan zu einem Wiederaufbaufonds ist ja mit einer ganzen Reihe von Vorstellungen verknüpft. Zum Beispiel sind wichtige Themen etwa kritische Bereiche wie die Gesundheitsindustrie, die Pharmaproduktion oder auch andere Bereiche wie Forschungskapazitäten auf den Weg zu bringen. Auch Themen wie Digitalisierung und Cybersicherheit sind dabei formuliert worden. Das Ganze eingebettet in einen Green Deal, also in einem umweltorientierten Wirtschaften. Das ist, so glaube ich, der richtige Weg. Und das alles dann verbunden mit den richtigen Impulsen für die Binnennachfrage in der EU, für die Erholung der Wirtschaft, die sogenannte Resilienz, sind die richtigen Konzepte, die jetzt gefragt sind. Damit sind auch die Ziele formuliert, die man mit diesem Plan erreichen will.
Wenn an der Stelle Deutschland und Frankreich Impulsgeber sind, auch in welchen industriellen Bereichen wir uns neu aufstellen wollen, ist das richtig. Sozusagen also eine gewisse Renaissance der Industriepolitik, verbunden mit der digitalen, technologischen Entwicklung und eingebunden in den Green Deal. Das sind meiner Meinung nach Ansätze dafür, wohin sich Europa entwickeln kann. Wenn man so viel Geld in die Hand nehmen will, muss man auch ein paar Vorgaben formulieren.
Ich glaube, dass das Programm von Ursula von der Leyen dazu geeignet ist, die EU voranzubringen und zwar in jeder Hinsicht: wirtschaftlich, gesellschaftlich aber auch in der eigenen Struktur. Wenn die 750 Milliarden das unterstützen, dann ist das der richtige Weg. Es wäre schön, wenn die Nationalstaaten das anhand der Probleme, die jetzt aufgetreten sind, und anhand der Lösungswege, die jetzt aufgezeigt worden sind, erkennen würden. Das wäre der richtige europäische Weg.
Im zweiten Halbjahr hat Deutschland die Ratspräsidentschaft, darauf hatte sich bereits vieles für die europäische Entwicklung fokussiert. Mit den Herausforderungen durch die Pandemie gewinnt diese Zeit noch größere Bedeutung. Wie groß sind die Erwartungen?
Natürlich ist jetzt vieles überlagert durch Corona. Ich glaube, man kann froh sein, dass jetzt Deutschland die EU-Ratspräsidentschaft hat. Wobei ich nicht sagen will, dass ich anderen Ländern das nicht zutraue – im Gegenteil. Aber Deutschland ist wirtschaftsstark, finanzstark, damit auch gut aufgestellt für eine gute Ratspräsidentschaft. Man hatte ja schon vorher die Erwartung, dass in dieser Ratspräsidentschaft die EU-Haushaltsprobleme gelöst werden können. Wenn man zeigen kann, dass Förderprogramme zur Konvergenz im EU-Budget dargestellt werden, gleichzeitig aber auch zeigt, dass man mit dem Corona-Programm akute Probleme angeht, kann beides zusammen eine gute Lösung sein. Die Auflösung der Haushaltsprobleme ist – neben der Corona-Pandemie – die Hauptaufgabe der deutschen Ratspräsidentschaft. Und ich bin überzeugt, dass das mit dem deutsch-französischen Vorschlag und den Maßnahmen der EU-Kommissionspräsidentin gelingen kann.
Deutsche Ratspräsidentschaft, deutsche EU-Kommissionspräsidentin, neue deutsch-französische Achse – das kann auch Skepsis hervorrufen.
Das glaube ich nicht. Deutschland hat in den letzten Jahren und insbesondere in der aktuellen Situation besonders bewiesen, dass es ein verlässlicher Partner in Europa ist und weniger die eigenen Belange in den Vordergrund gestellt hat. Das zeigt sich nicht nur in dem Merkel-Macron-Papier. Deshalb ist Skepsis kein Thema.