Nach Emmanuel Macrons und Angela Merkels Auftakt hat nun EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen noch einmal nachgelegt. Es geht um sehr viel Geld, aber vor allem erstmals um echte europäische Schulden – und Steuern.
Ein Herr Hamilton ist derzeit in aller Munde. Von Bundesfinanzmister Olaf Scholz bis zum Chef der EVP-Fraktion im EU-Parlament, Manfred Weber. Alle sprechen sie derzeit vom „Hamilton-Moment". Alexander Hamilton, der erste Finanzminister der Vereinigten Staaten von Amerika, hatte 1790 die Schulden der Einzelstaaten zu Bundesschulden gemacht und damit den Grundstein für den Aufstieg der Vereinigten Staaten zur Weltmacht und für den Dollar als spätere globale Leitwährung geschaffen. So etwas Ähnliches solle nun in Europa geschehen.
Der Anlass ist dramatisch genug: Die Corona-Krise trifft die Wirtschaft der Europäischen Union schwer. Sie dürfte in diesem Jahr um über sieben Prozent schrumpfen. Die Rezession wäre damit doppelt so schlimm wie die nach der Finanzkrise 2008. Die politischen Anführer Europas befürchten nun vor allem den politischen Fallout: So kam es speziell in Italien in den vergangenen Monaten zu einer immer offeneren Polemik gegen die EU, insbesondere gegen Deutschland. Wobei dumme Fehler der Bundesregierung das Ihre dazu beigetragen haben wie die Exportbeschränkungen von Schutzmasken zu Beginn der Krise.
Die Antwort darauf ist nun ein riesiges Rettungspaket, das die besonders betroffenen Länder, also vor allem Italien und Spanien, unterstützen soll. Sie sind ohnehin verwundbarer. Ihre Staatsfinanzen sind labil, auch wenn sie sich zuletzt wieder stabilisiert hatten, dank besserer Konjunktur und der Geldpolitik der Europäischen Zentralbank, die die Banken immer wieder mit frischem Geld versorgt und die Zinsen niedrig hält. Während Deutschland den Spielraum hat, seine Unternehmen zu schützen und viele Hilfsprogramme aufzulegen, gilt das für die Südeuropäer kaum.
Den Auftakt gaben Angela Merkel und der französische Präsident Emmanuel Macron mit ihrem Plan für einen Wiederaufbaufonds in Höhe von 500 Milliarden Euro. Das wichtige Signal dabei: Deutschland wäre bereit, seinen Widerstand gegen eine gemeinsame Schuldenaufnahme aufzugeben – über Jahrzehnte ein deutsches Tabu. Für alle, die das EU-skeptische Urteil des Bundesverfassungsgericht von Anfang Mai als „die deutsche Position" gehalten haben, kam das überraschend – vielleicht hat es aber auch gerade diese Reaktion Merkels provoziert.
Nun ein weiterer Paukenschlag: Der Merkel-Macron-Vorschlag wird von der Präsidentin der EU-Kommission Ursula von der Leyen noch getoppt: Insgesamt 750 Milliarden Euro will sie bereitstellen, 500 Milliarden Euro davon an die besonders betroffenen Länder vergeben, die sie nicht zurückzuzahlen brauchen. Der Rest von 250 Milliarden Euro steht als Kredite für die besonders betroffenen Länder zur Verfügung.
Viel mehr als nur ein großes Rettungspaket nach Corona
Das Geld käme zusätzlich zum schon bestehenden Siebenjahres-Haushalt der EU in Höhe von 1,1 Billionen Euro. Wenn man den bereits beschlossenen Schutzschirm von 540 Milliarden Euro dazu zählt, hätte die EU insgesamt ein Anti-Corona-Finanzpaket von 2,4 Billionen Euro bereitgestellt. Das Entscheidende ist: Die EU will sich selbstständig auf den Finanzmärkten verschulden und eigene Anleihen ausgeben. Das wäre neu – und nach EU-Verträgen eigentlich verboten. Aber das ließe sich aushebeln durch andere Paragrafen, die Ausnahmen erlauben. Nach dem Motto: Wo ein Wille ist, ist ein Weg.
Aber ist der Wille da? Schließlich müssen dem Plan und dem neuen Finanzierungsinstrument alle 27 Mitgliedstaaten und deren Parlamente sowie das EU-Parlament zustimmen. Denn die nationalen Regierungen müssen am Ende diese neuen EU-Anleihen garantieren, schließlich geht es um das Haushaltsrecht der Staaten, das wohl wichtigste demokratische Recht eines Parlamentes. Dass aus Italien und Spanien viel Lob kommt, ist zu erwarten. Vier Regierungen aber haben bereits angekündigt, dass sie dagegen sind: die Niederlande, Schweden, Dänemark und Österreich, die sich die „Sparsamen Vier" nennen. Allerdings ist ihr Widerstand keine Fundamentalopposition: Ihnen geht es vor allem darum, dass das Geld nicht als Zuschuss, sondern als Kredit weitergereicht wird. Das würde am Eigentlichen nichts ändern: Auch dann würde die EU Anleihen aufnehmen und sich verschulden müsse.
Es gibt Ökonomen, die alles, was in Richtung EU-Integration geht, per se toll finden – sie finden logischerweise auch die neuen Vorschläge gut. Andere wollen alles so lassen, wie es ist – sie finden den Vorschlag schlecht oder gefährlich. Interessant sind die Stimmen dazwischen.
So hat der Chef des Münchner Ifo-Instituts Clemens Fuest einige kritische Punkte einzuwenden: „Erstens ist der Fonds keine adäquate Antwort auf die aktuelle Rezession. Dafür kommen diese Hilfen viel zu spät", sagt er. „Die EU kann zudem keine eigenen Schuldtitel ausgeben, sie ist keine Föderation." Fuest hält es für entscheidend, dass ein neues Finanzinstrument „echten Mehrwert für Europa schafft". Was kann ein solches Instrument erreichen? „Es geht hier um Solidarität, aber es muss um mehr gehen als um reine Umverteilung von Mitteln. Dafür dürfte es in der EU keine Mehrheit geben. Die Corona-Krise hat gezeigt, dass die Probleme unserer Nachbarn unsere eigenen werden können, etwa, wenn die Zulieferer aus Italien nicht mehr liefern können und unsere Automobilfirmen Produktionsschwierigkeiten haben." Es müsse daher deutlich werden, warum die EU-Ebene geeignet ist, die Probleme anzugehen. Es muss um ein „europaweites öffentliches Gut" gehen. Nur dann dürfte eine Zustimmung aus allen Ländern gegeben sein.
Beispiele dafür wären grenzüberschreitende Infrastrukturprojekte. Dass allerdings aus Ländern wie Frankreich, Italien oder Spanien zunehmend Rufe nach einer neuen Industriepolitik laut werden, sieht Fuest kritisch. Dabei geht es darum, dass sich der Staat an Unternehmen beteiligt und Einfluss nimmt auf ihr Geschäft.
Tatsächlich bedeutet von der Leyens Plan – „Next Generation EU" –, dass das Geld, das dafür aufgenommen wird, in den bisherigen EU-Kanälen abfließt: Der weitaus größte Teil der zusätzlichen Gelder soll ins Budget der Strukturpolitik, die nun „Kohäsion und Werte" heißt, gehen, die sich damit auf fast 985 Milliarden Euro im Siebenjahreszeitraum fast verdreifacht. Der größte Teil des zusätzlichen Geldes würde nach Italien fließen, insgesamt 173 Milliarden Euro, danach käme Spanien an die Reihe mit 140 Milliarden Euro, dann Frankreich mit 39 Milliarden. Das Geld würde also nicht an die nationalen Haushalte fließen und könnte nicht zur Schuldentilgung der nationalen Schulden verwendet werden, sondern wie EU-Mittel immer schon als Zuschüsse zu Investitionen, als Fördergelder für Forschung und Entwicklung neuer Technologien und natürlich auch als Agrarhilfen. Grüne Projekte und Digitalisierung stehen auf der Agenda dabei ganz oben. Schließlich gilt es ja noch, den Green Deal zu verwirklichen, was ursprünglich von der Leyens EU-Projekt hätte werden sollen.
Kennzeichen eines echten Staates
So ist von der Leyen im EU-Parlament eine breite Zustimmung sicher. Neben der EVP und den Sozialisten sind vor allem die Grünen starke Befürworter. In einer ersten Reaktion zeigen sich etwa die EU-Abgeordneten Bas Eickhout und Rasmus Andresen aus Deutschland sehr angetan von den Plänen. „Das ist ein vielversprechender Start. Die Grünen haben ihn von Anfang an unterstützt", so Eickhout. „Wir müssen mehr in Richtung europäischer Lösungen arbeiten", ergänzte Andresen. Vor allem die Idee europäischer Steuern wie die Digitalsteuer und die CO2-Grenzsteuer hält er für richtig. Andresen sieht vor allem die Jugendarbeitslosigkeit in Südeuropa als eine riesige Gefahr für Europa. Unsicher ist die Reaktion der Regierungen Mittelosteuropas. Ihnen drohen nicht nur die Grünen-Abgeordneten immer wieder damit, die Auszahlung von Strukturhilfen daran zu knüpfen, dass der Rechtsstaat gewahrt bleibt. Vor allem Polen und Ungarn stehen in dieser Hinsicht unter Beobachtung des EU-Parlaments und der EU-Kommission, weil die Regierungen seit Jahren mit Gerichten und Medien im Konflikt stehen. Allerdings ist ihre Skepsis durchaus nachvollziehbar: So meinte der tschechische Premier Andrej Babiš, ihn störe, dass die Gelder vor allem an jene Länder gehen sollen, die am stärksten von der Corona-Pandemie betroffen sind. Damit würde Tschechien für sein gutes Krisenmanagement bestraft.
Für die Rückzahlung der Schulden soll die EU selbst sorgen. Dazu wird sie zunächst auf die Garantien und Zahlungen der Mitgliedsländer angewiesen sein. In Zukunft aber sollen eigene Steuern noch hinzukommen. Kommissionspräsidentin von der Leyen denkt an Zölle auf Importe in Abhängigkeit von deren CO2-Gehalt, Einnahmen aus dem Verkauf von CO2-Handelsrechten für den Flugverkehr oder eine Digitalsteuer. Das wäre dann wirklich ein Quantensprung: Eine eigene Steuer würde der EU ein wesentliches Kennzeichen eines echten Staates geben: Sie wäre dann nicht mehr nur angewiesen auf die Gelder, die sie aus den nationalen Haushalten bekommt, so wie bislang.
Aber das dürfte ohnehin noch dauern. Mit der Rückzahlung soll erst 2027 begonnen werden, die letzten Euros sollen 2058 fließen. Offenbar gehen die EU-Beamten davon aus, dass gegen Mitte des Jahrhunderts bessere Zeiten herrschen und mehr Geld vorhanden ist. Man wolle, so die EU-Kommission, sicherstellen, dass die Rückzahlung erst in Zeiten erfolgt, wenn die öffentlichen Kassen aus dem Gröbsten raus sind. Derzeit stünden sie noch zu sehr unter dem Eindruck der Krise.
Es ist also weniger eine kurzfristige Hilfe in der Not, die Macron, Merkel und von der Leyen bei ihren großen Plänen für Europa im Blick haben. Es geht eher um eine langfristige Reform der EU hin zu einem europäischen Bundesstaat. Das würde bedeuten, dass das EU-Parlament erstmals ein wirkliches Haushaltsrecht bekommt. Dann wäre nicht Alexander Hamilton mit seiner Schuldenablösung die wahre Ikone, sondern die Boston Tea Party aus dem Jahr 1773, die dann wenig später die Unabhängigkeit der Staaten von der englischen Krone bewirkte. Ihr Slogan lautete: „No Taxation without representation". Wer Steuern erhebt, muss auch Demokratie zulassen. EU-Steuern würden zwangsläufig ein wirklich starkes EU-Parlament und am Ende rechtliche Souveränität bedeuten. Für die einen ist das das unausgesprochene oder auch ausgesprochene Ziel, für andere, wie etwa das deutsche Bundesverfassungsgericht, eine unmögliche Vorstellung.