Die Szenen aus den USA sind erschütternd. Und aus europäischer Sicht schwer zu verstehen. Dabei schafft Präsident Trump in der Krise die Bilder, die viel über Amerikas zerrissene Seele zeigen.
Da lässt sich ein Präsident den Weg freikämpfen, um mit einer Bibel in der Hand für Kameras zu posieren, ganz so, als führe einer wie im Mittelalter einen heiligen Kreuzzug gegen Barbaren und Ungläubige an. Vermutlich fühlt er sich auch so. Nach seiner Lesart ist eine „Antifa" dabei, Amerika mit Plünderung und Raubzügen zu überziehen, wie dereinst die Hunnen Europa.
Fotos vom Auftritt Trumps zwischen uniformierten Spalieren wecken unangenehme Vergleiche. „Mich hat das an Muammar al-Gaddafi oder Saddam Hussein erinnert", zitiert die „Süddeutsche Zeitung" einen ehemaligen langjährigen Geheimagenten. Die surreal anmutende Szene hat etwas Lächerliches, wie bei den meisten Autokraten, und ist gleichzeitig brandgefährlich.
Dass in den USA jetzt alles gleichzeitig aufbricht, was schon lange als gesellschaftlicher Sprengsatz schlummert, darüber ist den letzten Tagen viel diskutiert und analysiert worden. Ein Wirtschaftssystem, dem so gut wie alle sozialen Errungenschaften, die Europa kennt, suspekt sind wie ein Werk des Teufels oder wahlweise von Sozialisten, was dasselbe zu sein scheint. Der erbitterte Kampf um „Obama-Care" ist ein Symbol für ideologische Grabenkämpfe. Eine progressive, wohlhabendere Elite an den beiden Küsten, eine darbende Bevölkerung in der kargen Mitte – das ist eine der zwar etwas groben, aber in der Tendenz zutreffenden Skizzen, die sich auch in der politischen Landkarte niederschlagen. Der Politikwissenschaftler Omar Wasow bestätigt im „Zeit"-Interview diese beiden Lager: „Das eine ist eher egalitär ausgerichtet und kämpft für Gleichheit ungeachtet von Herkunft und Hautfarbe, das andere will den Status quo aufrechterhalten."
Die Erkenntnisse sind ebenso wenig neu wie der nach wie vor tief verwurzelte Rassismus, oft beschrieben als „Amerikas Ursünde". Der Tod von George Floyd wirkte wie der Funke an einer sehr kurzen Lunte zu einem Gemisch aus Zutaten, die jede für sich allein schon hochentzündlich, zusammen aber extrem explosiv waren.
In der Corona-Krise hat Präsident Trump zunächst abgewiegelt. Ein Verhalten, das auch andere autokratische Staatschefs an den Tag legten, mit am extremsten sicherlich Brasiliens Präsident Jair Bolsonaro. Das verheerende Ergebnis in den USA sind bislang über 110.000 Tote (Stand 8.6.), die offizielle Arbeitslosenquote liegt bei 13,3 Prozent (dürfte nach Expertenschätzung real aber drei Punkte höher sein) gegenüber knapp vier Prozent vor einem Jahr), eine Krise, die mit der großen Rezession vor einhundert Jahren verglichen wird.
Es bricht auf, was lange schlummert
Und mittendrin ein Präsident, der eine „blühende Wirtschaft" entstehen sieht. Spätestens das nächste Jahr werde wieder „phänomenal". Und dieses nächste Jahr will das Phänomen Trump mit der Zeremonie zu seiner zweiten Amtszeit beginnen. Trump mag vielleicht Joe Biden als Herausforderer nicht als wirkliche Bedrohung wahrgenommen haben, ebenso wenig wie die zunächst unterschätzte Pandemie. Das katastrophale Ausmaß der Folgen lässt seine Superlativ-Floskeln aber zusehends alt aussehen und seine Umfragewerte wanken.
In dieser ohnehin höchst kritischen Gemengelage scheint Trump endgültig so ziemlich alles egal außer seiner Wiederwahl. Im gespaltenen Land heißt das, auf ein möglichst hohes Maß an Mobilisierung der eigenen Stammwähler zu setzen. Und das heißt: Polarisieren bis zum (nicht nur aus europäischer Sicht) Unerträglichen. Nichts mit „Versöhnen statt Spalten" in der Krise. Kein Feldzug mit der Bibel gegen die „Ursünde" der amerikanischen Nation.
Im Buch, das er in die Kameras reckte, mögen zwar dieselben Sätze stehen wie in den Bibeln, die bei Europäern zu Hause im Schrank stehen, aber wie dieses Buch gelesen, interpretiert und verstanden wird, hat diesseits und jenseits des Atlantiks teilweise reichlich wenig miteinander zu tun. Eine tragende Säule von Trumps Kernwählerschaft sind evangelikale Kirchen. Bei der Präsidentschaftswahl 2016 waren rund ein Viertel aller Wähler bekennende evangelikale Christen, und von denen wählten 80 Prozent Donald Trump. Und das wohl weniger, weil sich der damalige Kandidat durch besonders regen Gottesdienstbesuch ausgezeichnet hätte, sondern, weil er genau die Werte verkörpert, die in diesen Kreisen hoch im Kurs stehen. Autoritär mit einem zutiefst konservativen Familien- und Gesellschaftsbild, in dem Abtreibungen ebenso wie gleichgeschlechtliche Ehen auf tiefe Ablehnung stoßen. Liberale Lebensentwürfe, gar LGBT-Bewegungen, gelten dort schlicht als Graus.
Weit verbreitetes Weltverständnis in evangelikalen Kreisen ist der Kreationismus mit einem Weltbild, das die Schöpfungsgeschichte der Bibel wörtlich nimmt. Unter anderem vor diesem Hintergrund wird in Teilen der USA nach wie vor heftiger darüber gestritten, ob so etwas wie Evolution an Schulen überhaupt Unterrichtsgegenstand sein darf. Die Befassung von Gerichten durch Kläger, die sich dadurch in ihrer religiösen Überzeugung verletzt sehen, ist immer noch beträchtlich.
Ein Teil der Elite ist gegen Trump
Untersuchungen des Gallup-Instituts, die seit 1982 in zweijährigem Abstand gemacht werden, zeigen, dass über die Jahrzehnte der Anteil der Amerikaner, die glauben, der Mensch sei vor 10.000 Jahren von Gott geschaffen worden, ziemlich konstant bei 40 Prozent liegt. Das spiegelt sich auch politisch wider. Die Republikaner sind demnach in den letzten zehn Jahren „kreationistischer" geworden, der Anteil von Kreationisten stieg von 39 Prozent in 2009 auf 48 Prozent. Das bestätigte sich auch in den Zwischenwahlen. 2010, 2014 und 2018 stimmten jeweils drei Viertel (zwischen 75 und 78 Prozent) der weißen Wähler, die sich selbst als evangelikale oder wiedergeborene Christen bezeichnen, für republikanische Kandidaten.
Vor dem Hintergrund von der in diesen Kreisen verbreiteten tendenziell wissenschaftsfeindlichen Haltungen (wie der Ablehnung der Evolutionstheorie) mag sich auch der anfängliche Umgang mit Corona erklären. Ein ähnliches Phänomen ist in Brasilien zu beobachten, wo Präsident Bolsonaro den „Mainstream-Medien" schlicht „Fantasie" und einen Hype um Corona vorwarf. Auch Bolsonaro stützt sich auf immer stärker werdende evangelikale Kräfte.
Aktuell sind weltweit die USA das am stärksten von Corona betroffene Land mit 1,9 Millionen Infizierten, gefolgt von Brasilien (690.000) und Russland (470.000), Stand 8.Juni.
Struktureller Rassismus, die Pandemie mit einem Jahrhundert-Wirtschaftsdesaster, eine ohnehin wirtschaftlich, sozial und politisch gespaltene Gesellschaft mitten im Wahlkampf mit einem unkalkulierbaren Präsidenten – die einst stolze, starke Führungsmacht der „freiheitlichen Welt" gibt derzeit ein schlicht desaströses Bild ab.
Zur Wahrheit gehört aber auch, dass dieses Bild nicht das vollständige dieses so unendlich großen, so unterschiedlichen und vielfältigen Landes ist. Wenn sich Verteidigungsminister Mark Esper offen gegen Trumps militante Eskalationsrhetorik stellt, steht das dafür, dass wichtige Teile der politischen Elite Trumps Kurs an einer gefährlichen Grenze sehen. Bilder der Solidarität, wenn Weiße, wenn Angehörige der Sicherheitskräfte mit den friedlichen farbigen Demonstranten gemeinsam kniend protestieren, werden immer zahlreicher. Und immer mehr Sympathisanten des Protestes stellen sich denen entgegen, die gewaltbereit die Proteste zu instrumentalisieren versuchen. Untersuchungen, die der Wissenschaftler Wasow über die 68er-Proteste in den USA zitiert, zeigen: Wo Proteste friedlich verliefen, bekamen die Demokraten ein paar Prozent mehr, wo Gewalt eskalierte, profitierten dagegen die Republikaner signifikant. Bei den sich überlagernden Konflikten ist schwer auszumachen, ob die USA in einer Eskalation auseinanderbricht, was viele in einem rücksichtslosen Wahl-Endkampf befürchten, oder die Nation, wie oft in vergangenen Krisen, in einem gemeinsamen Kraftakt zusammenfindet.