Die Corona-Krise hat nicht nur Verlierer hervorgebracht – in manchen Bereichen hat sie den Umbau der Gesellschaft angestoßen oder beschleunigt. So auch im Verkehrsbereich: Pop-up-Fahrradspuren sind eindeutig durch die Krise entstanden.
Plötzlich ist Platz auf der Straße. Ein Radfahrer hat sich streckenweise gefährlich eng zwischen parkenden Autos und dem fließenden Verkehr durchgeschlängelt – da öffnet sich auf einmal eine eigene Spur. Ein neuer Pop-up-Radweg. Zwei Meter breit, abgegrenzt durch rot-weiß gestreifte Barken, gelbe Markierung auf dem Boden, gut sichtbar für alle Autofahrer und kilometerweit durchgezogen, gerade auf viel befahrenen, vierspurigen Straßen. 15 Kilometer dieser temporären Radwege sind bisher in Berlin entstanden, 25 weitere Strecken haben die Bezirke bei der Verkehrsverwaltung auf ihre Wunschliste gesetzt. Ein Senatssprecher hat vor Kurzem angekündigt, man überlege, diese Radwege dauerhaft einzurichten, mindestens aber bis Ende des Jahres.
Pop-up-Radspuren – das ist neu für die sonst so zählebige Berliner Verwaltung. Angefangen hat es in Friedrichshain-Kreuzberg. Felix Weisbrich, der Chef des Straßen- und Grünflächenamtes, hat in einem Monat vollbracht, was sonst in Berlin über Jahre nicht gelingt: einfach einen Bautrupp auf die Straße zu schicken und einen zwei bis drei Meter breiten, sicher befahrbaren Radweg abzustecken. Auf die Premiere am Halleschen Ufer folgten schnell weitere Straßen. Andere Bezirke griffen die Initiative auf. Und nicht nur die: Pop-up-Radwege gibt es bereits in München, Hamburg, Wien und Paris. In Oberhausen oder Würzburg kämpfen die Grünen darum, weitere Städte dürften folgen.
Inzwischen gibt es auch einen Handlungsleitfaden zur Anlage von Radwegen, der teure und langwierige Ingenieursplanung durch Standardschemata und Drohnenvermessung ersetzt. „Dieser Leitfaden ist Gold wert", sagt Weisbrich. Das Werk sei bereits ins Englische und Französische übersetzt worden.
Letzten Endes sind die neuen Fahrradwege ein Geschenk der Corona-Krise. Der Lockdown hatte den Autoverkehr auf den Straßen spürbar reduziert. Der öffentliche Nahverkehr wurde – solange es keine Maskenpflicht gab – gemieden, weil die Leute fürchteten, sich anzustecken. Auf den Bürgersteigen war zwischen parkenden Autos, herumirrenden Fahrradfahrern und Kinderwagen das Abstandsgebot nicht mehr einzuhalten. Da kam die Idee mit den temporären Radspuren genau zur rechten Zeit.
Zudem – so eine Umfrage im Auftrag des „Tagesspiegel" – bekannte sich jeder fünfte Deutsche dazu, in der Corona-Krise das Auto oder Bus und Bahn durch das Fahrrad ersetzen zu wollen. Wer sich in den Metropolen umsieht, wird es schon per Augenschein feststellen: Immer mehr Menschen fahren Rad. Für Strecken zwischen fünf und zehn Kilometern scheint es die beste Alternative zu sein. Das ist auf dem Land mit seinen größeren Entfernungen anders, aber auch hier geht der Trend in dieselbe Richtung. Schnellwege wie der Radschnellweg Ruhr schaffen Verbindungen in einer Stadt-Umland-Region über größere Entfernungen und erlauben durchgängig ein sicheres sowie attraktives Befahren bei hohen Geschwindigkeiten. In den Niederlanden sind sie seit Langem eine Selbstverständlichkeit. In der Schweiz werden sie Velobahnen genannt.
Jeder Fünfte will Auto, Bus und Bahn durch das Fahrrad ersetzen
Außerdem hat das E-Bike auch das Fahren auf hügeligen Strecken attraktiver gemacht. Große Firmen wie die Deutsche Bahn, Bayer oder Lufthansa zahlen ihren Mitarbeitern Zuschüsse bei der Anschaffung eines E-Bikes oder sie finanzieren die Leasing-Rate. Der Bundesverband Zukunft Fahrrad (BVZF) schätzt, dass die Zahl der geleasten Diensträder derzeit bei rund 300.000 Stück liegt. Bundesumweltministerin Svenja Schulze (SPD) möchte sogar noch mehr. Sie schlägt unter anderem vor, den Nationalen Radverkehrswegeplan umgehend fortzuschreiben, Verkehrsflächen zugunsten von Rad- und Fußverkehr umzuwidmen und den Kauf von E-Rädern staatlich zu bezuschussen. Lastenräder sollten weiter mit bis zu 2.500 Euro gefördert und die Förderung bis 2021 verlängert werden. Rund 7,5 Milliarden Euro – so das Ministerium – wären für ein solches Programm nötig. Das ist etwa genauso viel wie der Bund jährlich für den Straßenverkehr ausgibt. In das aktuelle Konjunkturpaket hat es Svenja Schulzes Programm allerdings nicht geschafft.
Dabei wäre ein Um- oder Ausbau der Fahrradwege dringend nötig. Wer sich am Wochenende oder an einem der vielen Feiertage in dieser Jahreszeit einmal aufs Rad gesetzt hat, hat es gespürt. Die Wege sind überfüllt. Kinder, Hunde und Lastenräder wuseln durcheinander. Rennradfahrer schießen von hinten heran, Mountainbiker krachen durchs Unterholz – wer einfach nur gemütlich unterwegs sein möchte, hat ständig Stress mit Ausweichen, Aufpassen und Abbremsen. Der Spaß am Radfahren kann einem dabei schnell abhandenkommen. Wie beschrieben, sollten Schnellspuren für Eilige die Radwege entlasten.
Ebenfalls ein Ergebnis der Corona-Krise sind die sogenannten Spielstraßen. Weil viele Städte ihre Spielplätze weiter geschlossen hielten, verfielen Anwohner und ihre Kommunalvertreter auf die Idee, einfach zu bestimmten Zeiten die Nebenstraßen für den Verkehr zu sperren. Der Anblick der „Himmel und Hölle" spielenden Kinder mitten auf der sonst so feinen Friedrichstraße war vielleicht ungewohnt, aber weder die Polizei noch die Anwohner stießen sich daran. Auch von den umliegenden Geschäften kam nur Positives, als sie wieder öffnen durften. Hatten die Eltern doch endlich Zeit, gemütlich shoppen zu gehen, während die Kleinen auf der Straße tobten.
Doch noch ist die Verkehrswende nicht zu einem Automatismus geworden. Eine Studie des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR) kam Anfang Mai sogar zu der Erkenntnis, dass das Auto der Gewinner der Krise sei. In der Tat stiegen viele, die vorher Bus und U- oder S-Bahn benutzt hatten, aus Furcht vor Ansteckung aufs eigene Fahrzeug um; Fahrgemeinschaften lösten sich auf. Das Fahrrad war vor allem für die 18- bis 39-Jährigen eine Alternative, so die „Tagesspiegel"-Umfrage.
Und die anderen? Es bleibt eine Aufgabe der Städte und Gemeinden, ihren öffentlichen Nahverkehr attraktiver zu machen. Wer jetzt für das Null-Euro-Ticket plädiert, liegt falsch. Wenn alle U-Bahn fahren, sich aber an deren Zustand nichts ändert, wird ein Negativeffekt ausgelöst: Eine verdreckte U-Bahn stößt die Fahrgäste eher ab, als dass sie mehr anzieht. Ein Zeichen hat bereits die Deutsche Bahn gesetzt: Ihre Züge sind seit der Corona-Krise samt den Toiletten viel sauberer geworden, das Reinigungspersonal kümmert sich ständig um die Abteile.
Bleibt die Frage, wie man es schafft, alle diese neuen Entwicklungen zu verstetigen. Sollte nach dem Ende der Pandemie-Krise wieder der alte Schlendrian einkehren, haben wir nichts für die Zukunft gelernt. Nach der Finanzkrise 2008 musste sich bei den Banken einiges ändern – es hat nicht vollständig geklappt, aber immerhin sorgen sie heute besser vor. Nach der Pandemiekrise sollte sich eigentlich jeder selbst ändern. Inwieweit wir das schaffen, ist noch offen.