Der Herausforderer Joe Biden muss ein Profil für ein anderes Amerika entwerfen
Es läuft derzeit schlecht für Donald Trump. Knapp fünf Monate vor den US-Präsidentschaftswahlen befindet sich der Amtsinhaber in der Defensive. Erst die Corona-Krise, dann der Einbruch der Konjunktur. Und nun erschüttern die Anti-Rassismus-Demonstrationen das ganze Land. Jede Kundgebung, die an die brutale Tötung des Afroamerikaners George Floyd durch weiße Polizisten erinnert, ist ein Fanal gegen Trump.
Hinzu kommt, dass dessen sträflicher Mangel an Empathie im Fall Floyd auch in konservativen Kreisen zunehmend auf Kritik stößt. Trumps ehemaliger Verteidigungsminister James Mattis, ein hoch angesehener Viersterne-General im Ruhestand, warf dem Präsidenten eine gefährliche Spaltung des Landes vor. Dessen Drohung, auch die Armee gegen Protestierende einzusetzen, provoziere einen unnötigen Konflikt zwischen Militär und Bevölkerung, polterte Mattis. Selbst der gegenwärtige Pentagonchef Mark Esper distanzierte sich von Trump.
Von alledem profitiert der demokratische Präsidentschaftsbewerber Joe Biden. In den nationalen Umfragen liegt Biden 7,2 Prozentpunkte vor Trump. Zu diesem Ergebnis kommt die politische Nachrichten-Webseite realclearpolitics.com, die den Durchschnitt aus verschiedenen Meinungsumfragen errechnet.
Dieser Wert ist jedoch unerheblich, da die heiß umkämpften Bundesstaaten („battleground states") am Ende den Ausschlag geben. Aber auch hier sieht es gut für Biden aus: Der Demokrat hat in Florida, Wisconsin, Michigan und Pennsylvania einen Vorsprung von jeweils mehr als drei Prozentpunkten gegenüber dem Amtsinhaber. All diese Staaten hatte Trump 2016 gegen Hillary Clinton knapp gewonnen.
Auch in strategischer Hinsicht liegen die Trümpfe derzeit nicht auf Trumps Seite. Sein Parade-Argument für den Wahlkampf sollte eine florierende Wirtschaft sein. Noch im Februar konnte er sich mit einem ordentlichen Wachstum und einer Arbeitslosenrate von 3,5 Prozent brüsten – der niedrigste Wert seit 50 Jahren.
Doch die Corona-Pandemie machte die strahlende Bilanz zunichte. Der Chef der US-Notenbank, Jerome Powell, malte für 2020 in düsteren Farben die schlimmste Rezession seit dem Zweiten Weltkrieg an die Wand. Alarmzeichen für Trump: Alle Präsidenten der letzten 100 Jahre, denen die zweite Amtszeit verwehrt blieb – George H.W. Bush 1992, Jimmy Carter 1980, Gerald Ford 1976, Herbert Hoover 1932 –, hatten zuvor mit gravierenden Wirtschaftsproblemen zu kämpfen.
Auch mit Blick auf die Demografie bröckelt die Machtbasis von Trumps Republikanern. Nach einer Langzeituntersuchung des Pew Research Centers, einem der führenden US-Meinungsforschungsinstitute, haben die Republikaner bei weißen Wählern ohne hispanische Wurzeln immer noch einen deutlichen Vorsprung von 53 zu 42 Prozent gegenüber den Demokraten. Aber der Anteil der Weißen an der gesamten Wählerschaft schrumpft – von 85 Prozent im Jahr 1996 auf 69 Prozent in den Jahren 2018/19. Die amerikanische Gesellschaft wird bunter, was tendenziell den Demokraten nutzt.
Trotz dieser Pluspunkte: Biden hat sich bislang noch nicht als überzeugende Alternative zu Trump aufgebaut. In der Corona-Krise verbarrikadierte er sich in einem zum TV-Studio umgebauten Keller in seinem Haus in Delaware. Außer gelegentlichen Video-Filmchen kam nicht viel.
Aber Biden besitzt keine schlüssige Agenda. Er hat noch keine Formel gefunden, welchen Weg er für Amerika einschlagen möchte. Doch Anti-Trump ist zu wenig, um den Präsidenten aus dem Weißen Haus zu jagen. Der US-Historiker Eddie Glaude Jr. bringt es auf den Punkt: „Wir brauchen eine Vision. Doch wir sehen von den Demokraten keine." Es gehe darum, „den moralischen Schwerpunkt des Landes zu verschieben, der Wall Street und dem Silicon Valley zu entkommen", mahnt Glaude. Er meint damit die Verminderung der sozialen Ungleichheit.
In den kommenden Monaten muss Biden liefern. Denn eines ist klar: Trump ist ein gnadenloser Populist. Je näher der Wahltag rückt, desto lauter wird er auf seiner destruktiven Klaviatur spielen. Er wird alle Mittel einsetzen, die ihm an Demagogie, Manipulation und Provokation zur Verfügung stehen – bis hin zu einem möglicherweise inszenierten Bürgerkriegs-Szenario, für das er sich als Law-and-Order-Mann empfiehlt. Biden muss sich wappnen. Was er derzeit zu bieten hat, reicht nicht.