Sie ist einer der wenigen deutschen Weltstars in der Unterhaltungsbranche: Ute Lemper. Ihr neuestes Album „Rendezvous with Marlene" widmet die Wahl-New-Yorkerin der Diva Marlene Dietrich.
Frau Lemper, Ihr Album „Rendezvous with Marlene" basiert auf einem dreistündigen Telefonat. Sie führten es mit Marlene Dietrich an einem Abend im November 1988 in Paris. Sind Sie damals schon mit ihren Liedern aufgetreten?
Nein, nein. Ich habe damals in Paris gelebt. Ich war 24 Jahre alt und bin in dem Musical „Cabaret" im Theater Mogador aufgetreten. Damit hatte ich meinen Durchbruch, und alle haben sich plötzlich um mich gerissen. Ich wurde mit Marlene verglichen, obwohl ich gar nicht so aussah wie sie. Ich war wie sie Deutsche und lebte in Paris. Ich habe ihr dann einen Brief geschrieben, um einfach mal Kontakt aufzunehmen. Sie hat mich tatsächlich zurückgerufen, und wir haben drei Stunden miteinander geredet.
Hatten Sie da das Gefühl, dass sie Ihnen ihr Herz ausschütten wollte?
Ja, sie war sehr emotional im Umgang mit mir. Der Großteil des Gesprächs drehte sich um ihre tragische deutsche Geschichte. Dass sie in ihrer Heimat nicht mehr geliebt wurde, hat bei ihr eine tiefe Wunde und eine große Traurigkeit hinterlassen. In ihren letzten Jahren fühlte sie sich sehr einsam, auch, weil sie von ihrer Tochter aufgegeben wurde. Maria meinte, Marlene sei eine schlechte Mutter gewesen. Sie wirkte am Telefon sehr melancholisch auf mich, auch wenn sie teilweise lustig war.
Wie sehr hat Sie dieses Telefonat berührt?
Es war überwältigend, überhaupt mit dieser großen Frau zu sprechen. Mir haben die Knie geschlottert. Es war für mich als 24-Jährige fast zu groß, um es zu begreifen. Ich brauchte Jahrzehnte, um diese Intensität zu verarbeiten zu etwas, das ich weitergeben kann. Hätte dieser Anruf 30 Jahre später stattgefunden, hätte ich sicher noch mehr davon mitgenommen und sie wahrscheinlich noch mehr gefragt.
Hat Marlene Dietrich sich Zeit ihres Lebens von der Presse zu Recht missverstanden gefühlt?
Sie wurde geliebt von den Engländern, geliebt von den Franzosen und geliebt von den Amerikanern. Nur in Deutschland hat man ihr die Liebe verweigert, weil sie eben als Exilantin im Feindesland gegen die Nazis gekämpft hat. Das war ein deutsches Problem, weil man sich damals nicht mit der eigenen Vergangenheit auseinandersetzen konnte. Man hätte sie eigentlich als Heldin begrüßen müssen, aber sie galt als Verräterin. Deutschland kam mit seiner eigenen Vergangenheit nicht zurecht.
Schließt sich mit dieser Platte für Sie ein Kreis?
Auf jeden Fall. Ich krieche mit dieser Platte und dem gleichnamigen Bühnenprogramm in ihre Haut hinein. Ich lebe sozusagen in ihr und sie in mir weiter.
Wie kommt es, dass Sie sich jetzt wieder der Dietrich zuwenden?
30 Jahre später habe ich mich aus verschiedenen Gründen dazu entschieden, ein eigenes Stück über Marlene zu schreiben. Die Theaterstücke, in denen ich sie spielen sollte, waren mir alle zu stereotyp. Ich habe dann viel über sie recherchiert und mich besonders auf diesen Anruf zurückbesonnen. Herausgekommen ist ein tiefgehendes Stück mit viel Musik. Darin sind all die großen Lieder aus verschiedenen Kulturen zu hören, die Marlene im Lauf der Jahrzehnte gesungen hat: amerikanische Jazz-Songs, deutschsprachige Lieder von Friedrich Hollaender, französische Chansons. Es ist meine Hommage und vor allen Dingen meine Interpretation dieser Stücke, die sehr anders klingen als bei der Dietrich.
Zeigen diese Lieder auch ein bisschen, wer Marlene Dietrich war und wie es ihr ging?
Klar, das sind ihre großen Lieder, die auch verschiedene Epochen ihres Lebens beschreiben. „One For My Baby" zum Beispiel hat sie mit Frank Sinatra gesungen. „The Laziest Girl In Town" stammt aus dem Hitchcock-Film „Stage Fright" mit ihr in einer Hauptrolle. Sie liebte die Chansons von Jacques Brel und Charles Trenet. Und das deutsche Kriegslied „Lili Marleen" hat sie den Soldaten in den Schützengräben gewidmet.
Haben Sie sich das Programm daheim in New York erarbeitet?
Ja, da ging es los. Zuerst habe ich es auf eine kleine Bühne gebracht, dann auf eine größere. Anschließend habe ich es in Italien, Spanien und Deutschland gespielt. Im Februar war ich auf Tour in England. Und jetzt ist alles zu, und ich warte darauf, dass die Bühnen der Welt sich wieder öffnen.
Sind diese Lieder einem jüngeren Publikum in den USA geläufig?
Es sind große Standards. Frank Sinatra wird ja heute noch gehört, auch Marlene wird noch gespielt, aber das ist natürlich keine Musik, die heutzutage in die Charts kommt. Ich habe diese Platte im alten Stil aufgenommen; ich war mit der Band im Studio. Sie hat nichts mit der Hörqualität einer herkömmlichen Popplatte zu tun; sie kommt aus einer anderen Welt. Sie ist eher zu vergleichen mit einer live eingespielten Jazzplatte. Sie trägt das Herz des zeitlosen Chansons in sich. Eine Plattenfirma spricht erst mal gar nicht auf solch ein Projekt an. Aber ich wollte diese für mich wichtige Arbeit unbedingt dokumentieren.
Ist Marlene Dietrich auch fast 30 Jahre nach ihrem Tod noch Deutschlands größter Star?
Die Zeiten ändern sich sehr schnell. Heute ist Madonna unter jüngeren Leuten kaum noch bekannt, obwohl sie noch aktiv ist. Die Musikkultur gerade in Amerika ist sehr kurzlebig. Aber die Rolling Stones – die vier musizierenden Opas – gibt es immer noch. Marlene Dietrich war aber vorwiegend kein Musik-, sondern ein Filmstar. Ihre Karriere war schon Mitte der 1950er-Jahre vorbei. Sie ist ein Stück Hollywoodgeschichte, und ihre knackige Whiskeystimme klingt auch für heutige Verhältnisse noch süffisant und attraktiv. Man muss auch in unserer schnelllebigen Zeit den Menschen erzählen, wer Marlene Dietrich war und was sie getan hat.
Was machte den Menschen Marlene Dietrich aus?
Sie war eine Deutsche in Amerika, wo ihr eine große Karriere gelang. Aber sie wollte zurück in ihre Heimat. Im Zweiten Weltkrieg kämpfte sie in den USA gegen die Nazis, weshalb sie in Deutschland noch Jahrzehnte später als Verräterin beschimpft wurde. Und zwar für etwas, was sie als selbstverständlich empfand. Marlene Dietrich war eine wesentliche Figur der Geschichte in ihrer politischen Courage und ihrer Fraulichkeit. In sexueller Hinsicht war sie für die damalige Zeit sehr progressiv. Man muss ihre Geschichte auch in unserer schnelllebigen Zeit erzählen. Wir müssen uns zurückerinnern an den Holocaust, die Befreiung der Konzentrationslager, den Kalten Krieg, den Fall der Mauer, den 11. September 2001.
Kommt Marlenes Engagement gegen den Faschismus in den US-Geschichtsbüchern vor?
Die ältere Generation kennt Marlene Dietrich natürlich, aber den jungen Leuten muss man wie gesagt immer wieder ihre Geschichte erzählen. Das müsste eigentlich Teil der kulturellen Erziehung sein.
Ihr Album ist auch eine Hommage an große Songschreiber.
Eben. Cole Porter, Charles Trenet, Friedrich Hollaender, Burt Bacharach. Es ist eine sehr abwechslungsreiche Platte und eine Hommage an das Leben der Dietrich. Aber ich interpretiere sie in meinem eigenen Stil.
Erkennen Sie sich auch selbst in diesen Liedern wieder?
Ich versuche nicht, wie die Dietrich zu klingen, sondern ich singe alles mit meinem eigenen Schmackes. Da steckt auch meine Lust am Jazz und am französischen Chanson mit drin. Ich habe lange in Paris gelebt und lebe jetzt seit über 20 Jahren in Amerika. In der Platte steckt auch meine eigene Geschichte mit drin.
Wie aktuell sind Lieder wie „Lili Marleen", das in einer Zeit der Kriegsstimmung entstand?
Das Lied stammt aus dem Ersten Weltkrieg. Es hat Bedeutung bekommen, weil es an den Fronten gespielt wurde. Marlene sang es 1942 für die amerikanischen Truppen, und es wurde dann auch von allen anderen Militärsendern in Europa ausgestrahlt. Goebbels hasste „Lili Marleen". Er nannte es kitschig und sagte, man solle es bloß nicht den deutschen Soldaten vorspielen. Es ist ein kleines sehnsüchtiges Lied aus einer ganz bestimmten Zeit, aber Kriege gibt es ja nach wie vor. Es heißt ja „Vor der Kaserne / vor dem großen Tor / steht eine Laterne / und steht sie noch davor / so wollen wir uns da wiedersehn / wie einst Lili Marleen". Es ist eine kleine Liebesgeschichte zwischen einem Soldaten und einer Frau, vielleicht einer Prostituierten oder einer Hausfrau, die sich heimlich treffen. Ein Stück von Liebe und Sehnsucht inmitten dunkler Kriegsjahre. Das ist ja nach wie vor realistisch.
Singen Sie das Lied bei Ihren Auftritten in Amerika im Original?
Ich singe immer die internationale Version: einen Vers in Deutsch und einen in Englisch. Meine Platte ist eine internationale Produktion. Ich habe sie in New York mit amerikanischen Musikern aufgenommen. Das ist kein deutsches Kulturgut. Auch Marlene Dietrich war kein deutsches Kulturgut, sondern eine internationale Künstlerin. Auch ich habe meine eigene Stimme, die wesentlich aus dem deutschen Kulturgut herausgewachsen ist. Ich bin ein Mosaik aus vielen Kulturen. Das deutsche Kulturgut ist natürlich Teil meiner Wurzeln, denen ich treu bleibe. Viele Amerikaner haben ja deutsche Vorfahren. Europa ist ein Baustein Amerikas.
Kommt es nach den Aufführungen oft zu Gesprächen mit amerikanischen Zuschauern?
Natürlich. Aber das Stück spricht für sich selbst. Es ist ein sehr reiches Bühnenstück mit viel Information. Mit politischer und menschlicher Geschichte. Die meisten, die es gesehen haben, waren sehr berührt.
Was berührt Sie am meisten an Marlenes Leben?
Ihr Mut. Ihre Individualität. Ihre Zivilcourage. Ihr Stil. Sie war Freidenkerin in einer Zeit, in der Frauen überhaupt nicht frei denken durften. Sie hat alle Konventionen gebrochen, sie war bisexuell, führte eine wilde freie Ehe mit ihrem Mann, sie war polygam. Sie war nie eine Frau zweiter Klasse, sondern auf einem Level mit den Männern. Sie hatte immer das letzte Wort, was sehr ungewöhnlich war in ihrer Zeit. Auch ihre androgyne Ästhetik war ungewöhnlich. Sie hat die Berliner Chuzpe bis ins Letzte gelebt.
Wie anspruchsvoll sind die Songs, die Marlene Dietrich gesungen hat, für eine Stimme?
Sie sind nicht sehr anspruchsvoll zu singen, sie müssen eher gefühlt werden. Ich habe daraus aber viele anspruchsvolle Interpretationen gemacht, meine Arrangements bleiben nicht immer in der Sprechstimme. Es gibt auf der Platte Jazz-Explorationen und Improvisationen. Ich habe aus den Liedern viel gemacht.
Welches Lied der Dietrich singen Sie besonders gerne?
Ich finde unsere Neuinterpretation von „In den Ruinen von Berlin" toll. Wir haben einen Bolero daraus gemacht. Auch „Lili Marleen" und Jazztitel wie „One For My Baby" finde ich einfach klasse, weil sie so grooven.