Autoimmunerkrankungen sorgen dafür, dass das eigene Immunsystem den Körper angreift. Viele Patienten haben deshalb gerade in Corona-Zeiten besondere Sorgen. In den meisten Fällen sind sie aber unbegründet.
Weltweit leben etwa zweieinhalb Millionen Menschen mit Multipler Sklerose (MS). 700.000 davon in Europa, rund 250.000 in Deutschland. Das Immunsystem greift beim MS-Patienten die äußere, isolierende Schicht der Nervenfasern im Gehirn und im Rückenmark an. Zur Behandlung kommen deshalb oft immunsupprimierende Medikamente zum Einsatz, also solche, die das Immunsystem unterdrücken. Das führt zwangsläufig zur Befürchtung, dass Patienten mit MS und anderen Autoimmunerkrankungen tendenziell gefährdeter für eine Erkrankung an Covid-19 sind. Eine neue Studie, am 30. April im Fachmagazin „The Lancet Neurology" veröffentlicht, belegt nun: Weder das Infektionsrisiko noch das Risiko für einen schweren Verlauf einer Covid-19-Erkrankung scheint bei Patienten mit MS erhöht zu sein.
Die Wissenschaftler haben für die Studie 232 MS-Patienten in Italien mit Symptomen und Anzeichen einer Covid-19-Infektion untersucht. 223 Patienten hatten einen milden Verlauf, sechs Patienten einen kritischen und vier Patienten einen schweren. Fünf Patienten starben. Die Zahlen unterscheiden sich zwar im Wesentlichen nicht von den allgemeinen Krankheitsverläufen, die Deutsche Multiple Sklerose Gesellschaft (DMSG) weist auf ihrer Internetseite aber darauf hin, dass eine fehlende Vergleichbarkeit von Zahlen aus anderen Ländern bestehe, da es in Deutschland eine deutlich höhere Anzahl an Tests zum Nachweis von Covid-19-Infektionen gebe. Dennoch: Einen großen Grund zur Sorge sieht auch der emeritierte Professor vom Institut für Virologie des Universitätsklinikums Schleswig-Holstein Prof. Dr. Dietrich Kabelitz nicht pauschal: „Das Immunsystem reagiert bei Menschen mit Autoimmunerkrankungen ja gegen den eigenen Körper, aber es gibt viele unterschiedliche Ausprägungen, deshalb kann man nicht allgemein sagen, dass diese Patienten gefährdeter sein könnten", sagt er. Dennoch sollten autoimmunerkrankte Menschen vorsichtiger sein als andere. „Die Frage, inwieweit eine Covid-19-Erkrankung bei einer Autoimmunerkrankung gefährlicher ist als bei anderen Menschen, hängt damit zusammen, welche Erkrankungen man genau hat und wie sie behandelt werden."
Lupus erythematodes etwa ist eine Autoimmunerkrankung, die viele Organe betrifft. Die wegen der an Schmetterlingsflügel erinnernden Wangenzeichnungen sogenannte Schmetterlingskrankheit kann auch die Lunge in Mitleidenschaft ziehen. „Wenn die Lunge geschädigt ist, kann man sich vorstellen, dass ein Virus wie Corona da nicht gut ist und es einen schlimmeren Verlauf geben kann", sagt Kabelitz. Und wer durch eine MS-Erkrankung über Jahre oder Jahrzehnten im Rollstuhl sitzt, habe dadurch eine schwächere Lunge, die einen ebenfalls anfälliger für das Coronavirus mache.
Autoimmunpatienten sollten sich an die Regeln halten
Autoimmunerkrankungen müssen aber nicht gleich solche schweren Krankheiten wie MS sein. Auch Rheuma ist eine Autoimmunerkrankung, die vielerlei Ausprägungen hat. „Rheuma allein als Grunderkrankung macht die Corona-Infektion nicht unbedingt gefährlicher", sagt Kabelitz. „Rheumatische Entzündungen werden aber oft mit verschiedenen Medikamenten behandelt. Das sind häufig immunsuppressive Medikamente." Also Medikamente, die das eigene Immunsystem unterdrücken. Ein bekanntes Beispiel dafür ist Cortison. „Solche Medikamente können die Immunantwort unterdrücken und dadurch auch die Corona-Infektion begünstigen", erklärt Kabelitz. Das Problem an der Sache: „Man sollte die Medikamente natürlich auf keinen Fall einfach absetzen, denn das kann nach hinten losgehen."
Man könne also sagen, dass ein Autoimmunerkrankter trotz der Studie, die Gegenteiliges annehmen lässt, durch bestimmte Medikamente ein höheres Risiko einer Erkrankung haben könnte als ein Gesunder. Immunologe Kabelitz warnt aber davor, sich deshalb komplett zurückzuziehen: „Es gibt ja ein paar allgemeine Verhaltensregeln und die treffen auf Autoimmunpatienten umso mehr zu. Man sollte sich einfach an die Regeln halten, an die sich alle halten. Der Selbstschutz steht im Vordergrund, und es ist ja in der Tat so, dass auch die jährlich grassierenden Grippeviren für Patienten mit einem angeknacksten Immunsystem besonders gefährlich sind. Wir haben im Moment also gerade keine Einzelsituation, sondern die Warnungen treffen generell zu." Ganz generell könne man aber nicht empfehlen, derzeit besonders den Kontakt zu anderen zu meiden. Denn es gibt ein breites Spektrum an Autoimmunerkrankungen und komme immer auf den Einzelfall an. „Ein Patient mit Rheuma muss sich nicht allein zu Hause einsperren", sagt Kabelitz. „Da reicht es, die allgemeinen Abstandsregeln und Hygienemaßnahmen einzuhalten." Wer allerdings akute Erkältungssymptome habe oder sich krank fühle, sollte auch mit Rheuma zu Hause bleiben und in jedem Fall den behandelnden Arzt kontaktieren. „Man sollte nicht zögern oder zurückhaltend sein mit Arztbesuchen, auch, wenn man eine Autoimmunkrankheit hat", rät Kabelitz. Wichtig sei zudem, dass auch Patienten mit Autoimmunerkrankungen für einen ausreichenden Immunschutz sorgen sollten. „Auch diese Patienten können sich gegen die Grippe oder gegen Pneumokokken impfen lassen, die eine schwere Lungenentzündungen hervorrufen können", sagt Kabelitz. „Und das sollten sie auf jeden Fall tun."
Verlauf der Corona-Infektion zu 80 Prozent mild
Sollte sich ein Patient mit einer Autoimmunerkrankung trotz der Vorsichtsmaßnahmen infiziert haben, sei der erste Schritt, den behandelnden Arzt zu kontaktieren, wenn das nicht ohnehin über das Gesundheitsamt schon geschehen ist. Gemeinsam müsse man dann entscheiden, wie es weitergeht. Auf die Schwere des Verlaufs habe eine Autoimmunerkrankung in den meisten Fällen aber keinen Einfluss. „Auch in diesem Fall sind die Verläufe zu 80 Prozent mild. Ob es ein schwerer Fall wird, hängt von der Medikation ab, deshalb ist es wichtig, gemeinsam mit dem Arzt zu klären, ob man die Medikamentierung für eine Zeit ändert, die meisten Menschen können die Erkrankung aber wie andere auch zu Hause in der Quarantäne überstehen", sagt Kabelitz. Das Problem mit Cortison: Es macht den Organismus empfänglicher für Viruserkrankungen. „Allerdings darf man es auch nicht von heute auf morgen absetzen. Es ist ja ein Medikament, das über lange Zeiten gegeben wird und deshalb muss man das immer genau mit dem behandelnden Arzt abklären."
Nicht immer seien die Medikamente indes schädlich. Während Cortison das Risiko eines schweren Verlaufs in einem gewissen Umfang steigere, könnte es auch Medikamente geben, die bei einer Corona-Infektion sogar helfen, denn sie führt zu einer ähnlichen überschießenden Immunreaktion in der Lunge wie Rheuma, Schuppenflechte oder Darmentzündungen in den betroffenen Organen. Forscher der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg haben in einer Studie herausgefunden, dass sogenannte Zytokin-Hemmer, die gegen die Autoimmunerkrankungen zum Einsatz kommen, Covid-19-Infektionen hemmen, bevor die Viren sich im Körper ausbreiten können. „Wir lernen ja gerade noch ganz viel, vieles muss überprüft werden, aber nach sechs Monaten kann man nicht davon ausgehen, dass wir alles über die Krankheit und die Wirkung aller Medikamente wissen", sagt der Immunologe Dietrich Kabelitz.
Das Immunsystem zu stärken ist für Menschen mit Autoimmunerkrankungen auf der anderen Seite besonders schwierig. „Das ist ein Feld, in dem sich viele Tipps in Foren und Gremien tummeln", warnt Kabelitz. „Da kommen dann solche Schlagworte wie Echinacea als Stimulanz vor, allerdings wäre ich grundsätzlich zurückhaltend mit solchen Präparaten, die angeblich stimulierend wirken." Echinacea, der Sonnenhut, ist eine Pflanze, der man nachsagt, das Immunsystem zu stärken. „Das ist aber in der Regel wenig bewiesen und vor allem als Autoimmunerkrankter kann es sehr schädlich sein, das Immunsystem zu stark zu aktivieren", sagt Kabelitz, der viel mehr an die Vernunft und den Blick jedes Einzelnen auf sich selbst appelliert: „Alles, was der gesunde Menschenverstand einem sagt, also etwa sich ausgewogen körperlich zu betätigen, sollte man auch tun."