Mitten in Thüringen wird die Natur sich selbst überlassen, sodass die Bäume viele hundert Jahre alt werden: Der Nationalpark Hainich schützt den größten Buchenwald der Republik. Die Arche Noah für Tiere und Pflanzen zählt zum Unesco-Welterbe.
Paradiesische Ruhe? Wer’s glaubt wird selig. Zumindest hier ist das Paradies ein Ort voller Leben, alles andere als totenstill. Schon im Frühling, nach dem Ende des scheinbar endlosen Winters, gibt es jeden Morgen aufs Neue ein von der Natur meisterhaft komponiertes Sinfoniekonzert. Den ganzen Sommer lang ist das Grün des Waldes die Bühne jener Musiker, die man hört, bevor man sie sieht. Sie zwitschern und zirpen, kreischen und krächzen, summen und surren – und tauchen einem manchmal auch ganz still vor den Augen herum. Wie viele es sind? „Wissen wir nicht genau", gesteht Jens Wilhelm. Der hochgewachsene Mann ist Förster und kennt den Wald so gut wie kein anderer. Doch Mutter Natur hält auch für ihn so manche Überraschung bereit: „Immer wieder entdeckt man etwas Neues."
Über 180 Vogelarten sind im Hainich nachgewiesen. Viele brüten hier auch, zum Beispiel sieben verschiedene Spechtarten: Die fühlen sich in alten Wäldern mit viel Totholz besonders wohl. Fast 50 Säugetier-Spezies bis hin zu Luchs und Wildkatze haben hier ihr Zuhause, doch das ist nichts gegen die Wunderwelt der Insekten. 500 Arten Großschmetterlinge und 39 Libellenarten sind dokumentiert sowie mehr als 4.000 Käferarten. Über die 30 Baumarten hinaus sind Unterholz, Waldrand und Offenland ebenso vielfältig: 900 Farn- und Blütenpflanzen und 1.600 Pilzarten sind nachgewiesen, 300 davon gefährdet oder vom Aussterben bedroht. Als Besucher steht man also inmitten einer gigantischen Arche Noah, die indes nicht in Kleinasien, sondern in Deutschland gestrandet ist. Es ist ein Dickicht aus Baumveteranen, zerfallenen Stämmen, und undurchdringlichem Urwald. Wer den Hainich besucht, Deutschlands größten zusammenhängenden Laubwald, merkt: Hier regiert nicht der Mensch – sondern die Natur.
160 Quadratkilometer misst der Hainich und liegt zentral in Deutschlands Mitte, in Thüringen, im Dreieck der Städte Eisenach, Mühlhausen und Bad Langensalza. Sein südlicher Teil, der etwa die Hälfte der Fläche ausmacht, ist als Nationalpark besonders geschützt. „Während nebenan im Naturpark noch Holz eingeschlagen wird, greifen wir auf mehr als 90 Prozent der Fläche nicht mehr ein", sagt Jens Wilhelm, der Revierförster von der Nationalparkverwaltung. Nur an manchen Stellen dürfen Schafe weiden, damit die offenen Flächen artenreich bleiben.
Die Wunderwelt der Insekten
Nicht die Eiche, sondern die Buche müsste eigentlich der nationale Baum des Landes sein, erklärt der sympathische Experte. „Ohne Einfluss des Menschen würden fast überall Laubwälder wachsen, in denen die Rotbuche dominiert – so wie eben hier im Hainich." Doch ungenutzten Wald, der einfach wachsen darf, gibt es kaum noch: Nur auf 0,2 Prozent der Fläche Deutschlands stehen Buchen, die alt werden dürfen. Doch wie man in den Wald hineinruft, so schallt es heraus: Weil man hier die Natur Natur sein lässt, entwickelt sich der Hainich zu einem paradiesischen Lebensraum für unzählige Tiere und Pflanzen.
Besuchsrecht hat man als Zweibeiner aber trotzdem, weil sich der Nationalpark die Umweltbildung auf die Fahnen geschrieben hat – frei nach dem Motto: Man schützt nur, was man kennt. Ob zu Fuß, mit dem Rad, oder gezogen von zwei Rückepferden mit dem Kremser, einer Mietkutsche: Über 120 Kilometer Wege und Erlebnispfade führen durch das Schutzgebiet und um es herum, ohne jedoch die besonders wertvolle Kernzone zu zerschneiden. Bei der Gründung des Nationalparks Ende 1997 war das noch anders: Damals lag der touristische Wert des Areals bei null. Das Gelände war von der Nationalen Volksarmee und der Roten Armee als Schießplatz genutzt worden – Normalsterbliche hatten angesichts der bleihaltigen Luft keinen Zutritt, und nach Abzug der Soldaten mussten erst die zurückgelassenen Munitionsreste geräumt werden. Die militärische Nutzung hatte aber eine gute Seite. „Für die Forstwirtschaft war der Holzeinschlag tabu. Deswegen konnte sich hier in den letzten Jahrzehnten ein Wald entwickeln, der den in Mitteleuropa längst verschwundenen natürlichen Urwäldern sehr nahekommt", sagt Jens Wilhelm und führt seine Besucher vom Ausgangspunkt Craulaer Kreuz mitten hinein ins dichte Grün. Das Blätterdach schützt vor dem leichten Nieselregen, süßlich duftet der Waldboden. Im März war hier noch alles bedeckt von Märzenbechern, Buschwindröschen und Lerchensporn, später übernimmt der markant duftende Bärlauch. Als grüner Teppich breiten sich die Blätter aus, im Mai schließlich bedeckt ein weißes Blütenmeer den Waldboden – und das auf vielen hundert Hektar. Später kann man hier Orchideen wie Knabenkräuter und Waldhyazinthen entdecken.
Im Frühling und dann wieder im Herbst, wenn sich die Blätter von Buche und Eiche, Esche und Spitzahorn, aber auch von selteneren Baumarten wie Elsbeere und Speierling bunt verfärben, kommen die meisten Besucher in den Hainich. Doch der hat das ganze Jahr über seine Reize: Im Sommer explodiert das Leben im Totholz, das hier eben nicht weggeräumt wird, sondern langsam vermodert. Die Bäume selbst sind die größte Attraktion: Gigantische Veteranen, vom Sturm geworfene Riesen mit tellergroßen Pilzen, den Zunderschwämmen, und nach oben strebende Jünglinge, die um Licht und Nährstoffe konkurrieren.
Explodierendes Leben im Totholz
Doch nicht nur am Boden ist der Hainich ein spannender Lebensraum. Einen für Menschen normalerweise unzugänglichen Bereich, das Blätterdach, erschließt der Baumkronenpfad. Auf einem Steg geht es Stück für Stück, Meter um Meter, in die Höhe, mitten hinein in die Wipfel mächtiger Buchen. Dass sich hier Bechsteinfledermaus und Mittelspecht tummeln, erklären Informationstafeln. Genauso spannend sind jedoch die Insekten, die einen umsurren: Mal ist es ein Maikäfer, der vorbeibrummt, mal besuchen einen große Falter auf der Suche nach Nektar. Im Eintritt ist eine Führung inbegriffen – Ranger des Nationalparks erklären die Besonderheiten des Waldes und weisen dann den Weg zur 40 Meter hohen Aussichtsplattform: Von hier aus blickt man zur Wartburg nach Eisenach, über den Hainich und das fruchtbare Land des Thüringer Beckens.
Zu Tode geliebt wird das Schutzgebiet bislang aber noch nicht – was auch damit zusammenhängt, dass Besucher inzwischen mit öffentlichen Verkehrsmitteln anreisen können. In Eisenach, bekannt für die geschichtsträchtige Wartburg, startet mit der Linie 150 der sogenannte Hainichbus. Damit lässt sich nicht nur der Baumkronenpfad mitten im Nationalpark, sondern auch Bad Langensalza gut erreichen. Die Kurstadt hat heilende Quellen und zehn Parks und Themengärten. Doch inzwischen machen viele Leute auf dem Weg dorthin auch einen Stopp auf der anderen Seite des Waldes, im Örtchen Hütscheroda. Das liegt so versteckt zwischen den Hügeln, dass man es gar nicht so leicht findet. Nur ein paar Dutzend Einwohner leben hier – und inzwischen auch zwei Luchse und einige Wildkatzen. In einer umgebauten Scheune kann man die Fährte aufnehmen und mehr über die scheuen Samtpfoten erfahren. Dann geht es raus in die Natur: Mit knapp eineinhalb Kilometern Länge ist der Wildkatzenschleichpfad auch etwas für Kinder. Wer mehr Power hat, kann auf dem sieben Kilometer langen Wildkatzenpfad marschieren und dabei auf dem sogenannten Generalshügel einen Aussichtsturm erklimmen: Von dort sieht man Thüringer Wald, Rhön und Werratal.
Schaufütterung bei den Luchsen
Nur die Wildkatzen machen sich in der Regel rar. Weil man sie in freier Wildbahn nur mit außerordentlich viel Glück zu sehen bekommt – im Nationalpark kommen etwa 40 Tiere vor –, gibt es in Hütscheroda nun ein Wildkatzengehege. Es ist das Zuhause von vier männlichen Tieren. Zahm sind Carlo, Toco, Franz und Emil nicht, die Tiere bleiben scheu. Aber sie zeigen sich immer dann, wenn’s Mäuse gibt: Mehrmals täglich finden moderierte Schaufütterungen statt. Auch ein Luchspärchen ist nun im Gehege zu Hause. Nebenan liegt auch ein imposantes Herrenhaus mit Park. Wo einst die Ritter von Wangenheim residierten, schwingt heute Manuel Spieth das Zepter und serviert seinen Gästen Spezialitäten wie das „Kloßgeheimnis". Was das ist? Darf man leider nicht verraten. Selbst aus Neuseeland kamen schon Besucher in den Hainich, weil sie den echten deutschen Wald erleben wollten, den sie nur aus Geschichten kannten. Wie ein Märchen klingt auch die Entwicklung des Nationalparks: Am Anfang wie fast jedes Schutzgebiet heftig bekämpft, hört man heute fast nur Positives. Trotzdem schlummert der Hainich noch in einer Art Dornröschenschlaf, weil ihn außerhalb Thüringens kaum jemand kennt. Langsam ändert sich das: Die Unesco hat den Hainich zum Weltnaturerbe ernannt. So steht der kleine, wilde Flecken Buchenwald jetzt in einer Reihe mit Galapagos und der Serengeti.