Im Kanu durch Deutschlands Mitte: Bei einer Paddeltour auf der Werra erlebt man Thüringen aus ungewohnter Perspektive. Der Fluss bietet grüne Weidentunnel und offene Auenlandschaften, am Ufer begleiten einen mittelalterliche Burgen und Schlösser.
Uralte Weiden strecken ihre knorrigen Äste aus, als wollten sie einen aufhalten. Manchmal muss man sich tief ducken, um unter ihnen durchtreiben zu können, sonst würden sie die Wasserwanderer aus den Kanus werfen. Das Laub bildet einen grünen Tunnel, den das Sonnenlicht nur gefiltert durchdringt. Erlen reihen das Ufer, dahinter ein paar Ulmen und Eschen: An manchen Stellen des Flusses haben sich noch Altärme und Auwälder mit den typischen Baumarten erhalten.
Mit hellen Pfiffen begleitet einen hier ein fliegender Edelstein: Den blau-rot gefiederten Eisvogel bekommt man anderswo nur mit Glück zu Gesicht. Doch wo die Natur noch Natur sein darf, ist die Werra wildschön wie ein Dschungelfluss.
Was nach der nächsten Kurve kommt? Von der Werra lässt sich selbst Andreas Pfannstiel immer wieder aufs Neue überraschen. Zwar kennt er den Fluss schon seit seiner Jugend von Slalom-Übungen mit dem Kanuverein. Außerdem stattet er seit etwa 25 Jahren mit seiner Firma Pfannstiel Outdoor aktiv diejenigen mit Kanus und der passenden Ausrüstung aus, die den Fluss für eine Tagestour oder bei einer längeren Reise erkunden wollen. Doch die Werra hat, obwohl sie vielerorts ausgebaut und begradigt wurde, ihren naturnahen Charakter bewahrt. „Mal taucht ein Fischotter vor einem auf, mal muss man einen umgestürzten Baum umschiffen: Eine Tour auf dem Wasser ist hier jedes Mal ein Abenteuer."
300 Kilometer schlängelt sich die Werra durch Thüringen und Hessen, um sich schließlich in Hann. Münden mit der Fulda zur Weser zur vereinigen. Die
Strömung ist so gemütlich, dass auch Anfänger auf ihr paddeln können. Beliebt sind die offenen und kippstabilen Kanadier: Hier hat nicht nur eine vierköpfige Familie Platz, es passen auch etliche Kilogramm Ausrüstung und Gepäck hinein. Wer noch nie gepaddelt hat, bucht zunächst am besten eine geführte Tour. „Viele Gäste sitzen zum ersten Mal im Leben in einem Kanu. Doch die Paddelschläge, die hier wirklich wichtig sind, lernt man schnell", meint Andreas Pfannstiel.
Auch für Anfänger
Vom Städtchen Meiningen, wo die meisten Kanuten starten, dauert eine Tour bis zum Zusammenfluss mindestens eine Woche. In ein paar Tagen weniger ist die beliebte Panoramastrecke von Meiningen bis Treffurt zu schaffen, wo der Fluss oft noch ursprünglich wirkt. „Zu DDR-Zeiten war die Werra ökologisch tot, weil das Abwasser ungeklärt eingeleitet wurde. Heute hat der Fluss nahezu wieder Badewasser-Qualität", sagt Thomas Wey vom Bund für Umwelt und Naturschutz (BUND). Mit dessen Projekt „Lebendige Werra" soll die Vielfalt der Lebensräume am und im Fluss erhalten und erweitert werden. Bei Lauchröden wurden auf einem zehn Kilometer langen Abschnitt die Ufer aufgeweitet, sodass die Werra hier wieder mehr Platz hat. Das Hauptproblem bleibt die Versalzung des Flusses: „Die Kali-Industrie darf ihre Lauge weiterhin in die Werra pumpen. Fischen macht das Salz das Leben schwer, doch für Menschen ist die Sole glücklicherweise ungefährlich."
Am Ufer der Werra begleiten einen verschlafene Örtchen und die Solestadt Bad Salzungen. Fast auf jedem Hügel steht eine Burg. Viele Pensionen haben sich auf die Wasserwanderer eingestellt. Man kann seine Nächte aber auch an deutlich ungewöhnlicheren Orten verbringen: Auf dem Campingplatz in Breitungen stehen kuschelige Schäferwagen auf einer Wiese. Und wer bei Martin Koenitz im Renaissanceschloss Breitungen übernachtet, kann in die Geschichte eintauchen.
Am Wochenende herrscht auf der Werra mehr Betrieb, doch unter der Woche trifft man auf dem Fluss oft nur wenige andere Paddler. Am Bootsanleger des Dörfchens Hörschel, wo sich Reisende mit Thüringer Hausmannskost für die Weiterfahrt stärken, hat man in der Gaststätte indes unerwartet viel Gesellschaft. Dass sich vom Frühlingsanfang bis in den Herbst hinein Tag für Tag Dutzende von Wanderern in dem winzigen Weiler einfinden ist kein Zufall: Am Ufer der Werra beginnt hier der berühmte Rennsteig-Wanderweg. Manche machen hier auch die letzten paar Schritte ihrer Tour. Am Holzpfahl mit den Wegweisern für die Route haben Wanderer viele ausgetretene und ausrangierte Sportschuhe als Andenken an ihren langen Marsch zurückgelassen.
Fast überall steht eine Burg
Schon seit dem 19. Jahrhundert gibt es in Hörschel die Tradition, dass man als Wanderer seinen Stock für einen Moment ins Wasser der Werra taucht und einen kleinen Kiesel mit auf die Reise nimmt. Genau 169 Kilometer und 300 Meter später, zum Abschluss der Tour über den Rennsteig, wirft man den Stein dann im Ort Blankenstein in die Saale. „Deswegen kommen wir auf der Werra inzwischen auch bei niedrigerem Wasserstand locker über die Kiesbänke", grinst Stefan Roth. Seine Firma Werratal Tours hat in Creuzburg und Treffurt zwei Kanustationen. Viele Wasserwanderer und Radler, die auf dem Werratal-Radweg unterwegs sind, übernachten auch an seinem kleinen Campingplatz am Fluss.
Stefan Roths Hausstrecke bei Creuzburg entpuppt sich als einer der schönsten Abschnitte der Paddeltour auf der Werra: Harmonisch vermählt sich hier die Kulturlandschaft Thüringens mit der Wildheit der unberührten Natur. Zunächst passieren Kanuten eine annähernd acht Jahrhunderte alte, in sieben imposanten Bögen ausgeführte Natursteinbrücke. Bereits im Jahr 1223 ließ sie ein Thüringer Landgraf aus Sand- und Kalksteinblöcken errichten, um den auf dem Handelsweg „Via Regia" reisenden Kaufleuten einen sicheren Übergang über die Werra zu ermöglichen. Ursprünglich war sie nicht nur durch einen Wehrturm gesichert, sondern auch mit der Stadtmauer Creuzburgs verbunden. Die Befestigungen sind inzwischen Geschichte, doch die für den himmlischen Schutz der Brücke und der Reisenden zuständige Liboriuskapelle hat den Wandel der Zeiten überdauert.
Ein paar hundert Meter nach dem Kulturdenkmal übernimmt die Natur. Tief hat sich die Werra hier in ein
Muschelkalkmassiv eingegraben und ein schmales Tal mit Steilhängen und weiß leuchtenden Felsen geformt. Wer sein Kanu am Ufer festmacht, kann auf das Naturschutzgebiet Ebenauer Köpfe hinaufsteigen. Früher wurde das Areal hoch über dem Fluss noch zum Weinanbau genutzt. Heute sind die Felsen mit den Wacholderbüschen und dem kargen, der Sonne ausgesetzten Magerrasen ein wichtiges Rückzugsgebiet für seltene Tier- und Pflanzenarten. An den Hängen des Werratals reiht sich ein Schutzgebiet an das andere. „Wir haben hier nicht nur äußerst rare Heuschrecken gefunden. Sondern auch 35 Arten von Schmetterlingen, zum Beispiel Schwalbenschwanz und Perlgrasfalter", erzählt Werra-Experte Thomas Wey vom BUND. In einem Naturführer hat er noch mehr Informationen über die Lebensräume am und im Fluss zusammengetragen. Das Rote Waldvöglein ist hier auch heimisch, doch man muss schon wissen, wo man es zu suchen hat. Man findet es nämlich auf dem Boden statt im Blau des Himmels: Es ist eine der vielen geschützten Orchideenarten. Im Aufwind über den Steilhängen kreist der Rotmilan, und auf den Felsvorsprüngen brüten Kolkrabe und die größte heimische Eule, der Uhu.
Rotmilane, Eulen, Uhus und Orchideen
Wer anschließend wieder sportlich mit dem Paddel ins Wasser sticht oder sich als entspanntere Alternative einfach von der gemächlichen Strömung treiben lässt, reist in der Werraschleife zwischen Frankenroda und Falken ebenfalls durch artenreiches Terrain. Es zwitschert im Schilf, auf den Feldern entlang des Flusses und im angrenzenden Wald: Nicht nur Meisen und Lerchen lassen von sich hören, sondern auch Sumpf- und Teichrohrsänger. Auf der Werra tummeln sich allerlei Enten, Zwergtaucher, sowie ein turtelndes Höckerschwan-Pärchen.
Weiter flussabwärts wartet als nächstes kulturelles Highlight die Fachwerkstadt Treffurt mit ihrem Wahrzeichen, der von Weitem sichtbaren Burg Normannstein. Vorher treibt man mit der gemütlichen Strömung der Werra aber noch durch eine Engstelle. Über einer gut 60 Meter hohen Felswand erheben sich die Zinnen des Heldrasteins, den die Thüringer Lokalpatrioten zum „König des Werratals" gekrönt haben. Wer die Stufen zum Aussichtsturm hinaufkraxelt, kann das gut nachvollziehen: Der Blick auf den Harz und zur Rhön ist wirklich königlich.