Weitsprung-Weltmeisterin Malaika Mihambo zieht es in die USA zum legendären Carl Lewis. Im Sommer will die 26-Jährige nach Houston übersiedeln, wo sie künftig von dem neunfachen Olympiasieger betreut wird. Der Deutsche Leichtathletik-Verband wurde von dem Wechsel kalt erwischt.
Es wird wohl noch eine Weile dauern, bis in der Leichtathletik wieder so etwas wie Alltag eingekehrt ist. Nach der coronabedingten Auszeit wird der Trainings- und Wettkampfbetrieb in der olympischen Kernsportart nur langsam wieder hochgefahren. Weitspringerin Malaika Mihambo war allerdings auch während der Hochzeit der Pandemie nicht untätig. Die Weltmeisterin und passionierte Klavierspielerin nutzte die Zeit zu Hause, um mit Online-Unterstützung ihrer Musiklehrerin ihre eigene Sonate zu verfassen.
Zudem ließ sie es sich nicht nehmen, auf ihrem Youtube-Kanal ein virtuelles Kindertraining aus dem heimischen Wohnzimmer anzubieten. Im Interview mit der „Welt" erklärte sie dazu: „Ich finde, dass Spitzensport eine Verantwortung mit sich bringt. Viele Menschen – gerade jüngere – schauen zu dir hoch. Und da ist es wichtig, ihnen etwas zurückzugeben und sie im besten Fall zu inspirieren, sie zu bestärken, damit sie an sich glauben können, sich neuen Herausforderungen stellen, die sie sonst vielleicht nicht angehen würden, weil ihnen der Mut fehlt. Ich finde es schön, Menschen zu bestärken. Wir Sportler erreichen einfach einen Teil der Menschen mit unseren Leistungen und auch mit unserem Verhalten – junge und alte. Und da sollten wir mit gutem Beispiel vorangehen."
Das hat die 26-Jährige getan und kürzlich selbst einen mutigen Schritt gewagt. Nachdem ihr langjähriger Coach Ralf Weber die Zusammenarbeit mit Mihambo „aus persönlichen Gründen" nach 15 Jahren beendet hatte, gab die Sportlerin bekannt, künftig bei Leichtathletik-Legende Carl Lewis und dem als Athleten international ebenfalls sehr erfolgreichen Leroy Burrell zu trainieren. Im Sommer, sofern es die Corona-Einschränkungen erlauben, wird sie dafür aus dem beschaulichen Oftersheim im Rhein-Neckar-Kreis nach Houston ziehen. Nach dem EM-Gold 2018, dem Weltmeistertitel im vergangenen Jahr und der Wahl zu Deutschlands Sportlerin des Jahres 2019 macht Mihambo ihren nächsten großen Sprung also über den großen Teich in die USA. „Ich möchte mich als Athlet und Mensch weiterentwickeln", begründete sie ihren Entschluss.
Kennengelernt hatten sich Mihambo und Lewis bei einem Online-Termin, der von ihrem gemeinsamen Sponsor Nike lanciert wurde. Dabei wurde schnell offenbar, dass beide auf einer Wellenlänge liegen. „Er ist der Athlet des Jahrhunderts. Er interessiert sich für Politik, spielt Klavier und hat sich vegan ernährt. Er hat gesungen, geschauspielert und hatte ein eigenes Mode-Label. Das sind Menschen, die nicht den 08/15-Weg gehen", sagte Mihambo. Auch sie hat in der Vergangenheit zum Teil über ungewöhnliche Pfade zum Erfolg gefunden. Nach ihrem Europameistertitel 2018 in Berlin reiste sie für einige Wochen allein durch Indien, ausgestattet nur mit Rucksack und Yogamatte – geschlafen wurde unter freiem Himmel. Aus dieser Reise zog sie die Kraft und die mentale Stärke, die sie im vergangenen Jahr auszeichnete. Während der gesamten Saison blieb Malaika Mihambo ungeschlagen, steigerte ihre Bestleistung auf 7,30 Meter und jubelte bei der WM in Doha (Katar) über die verdiente Goldmedaille.
„Der Athlet des Jahrhunderts"
Auch für die Olympischen Spiele in Tokio (Japan), die wegen der Corona-Pandemie um ein Jahr auf 2021 verschoben wurden, ist sie mit ihrem schnellen Anlauf, der gewaltigen Sprungkraft und vor allem dank ihrer enormen Nervenstärke die große Favoritin. Mehr noch: Mit ihrer unbekümmerten Art hat sie das Zeug zum Star, zum Aushängeschild der gesamten Sportart. Oder wie es Michael Reinsch in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung" ausdrückte: „Die Selbstverständlichkeit, mit der sie im Weltmeisterschafts-Finale von Doha vor dem letzten Sprung den Lippenstift auffrischte – Farbe: Chocolate Shock – und das Selbstbewusstsein, die Ehrung als Sportlerin des Jahres in Baden-Baden im goldenen Kleid in Empfang zu nehmen, können im Nachhinein als Signale interpretiert werden: Malaika Mihambo will mit mehr glänzen als mit sportlicher Leistung."
Insofern macht die Zusammenarbeit mit Carl Lewis durchaus Sinn, den die französische Zeitung „Le Monde" einmal als „eine Mischung aus Maradona, Michael Jackson und Madonna" bezeichnete. Als Aktiver war Lewis ein absoluter Weltstar des Sports und wurde 1999 vom Weltverband sogar zum „Leichtathleten des Jahrhunderts" gekürt – ungeachtet seiner Doping-Vergangenheit. Mit neun Olympia-Goldmedaillen in Sprint und Weitsprung ist der heute 58-Jährige zusammen mit dem Finnen Paavo Nurmi immer noch der erfolgreichste Leichtathlet der Geschichte. Mittlerweile ist er seit sieben Jahren Assistenztrainer an der University of Houston. Leroy Burrell arbeitet an der Universität seit über 20 Jahren als Cheftrainer. Auch der 53-Jährige war einst ein Weltklassesprinter, der zusammen mit Lewis 1992 Olympiasieger und 1991 Weltmeister mit der Staffel wurde (sowie 1993 ein weiteres Mal, jedoch ohne Lewis). Ebenso wie Lewis war er ehemals Inhaber des Weltrekords über 100 Meter.
Dass die beiden neuen Trainer von Malaika Mihambo außer im Weitsprung auch im Sprintbereich viel Erfahrung haben, ist aus ihrer Sicht ein weiteres Plus. Auch die Deutsche fährt seit einiger Zeit zweigleisig und hat Gefallen am Sprint gefunden, wenngleich der Weitsprung weiterhin ihre Spezialdisziplin bleibt. Bei den deutschen Hallenmeisterschaften in Leipzig belegte sie im Februar Platz zwei über 60 Meter. Gleichwohl birgt ihr Wechsel in die USA auch Gefahren. Ein gut funktionierendes System ein Jahr vor den Olympischen Spielen zu verändern, ist nicht ohne Risiko – zumal in der amerikanischen Leichtathletik auch methodisch ganz anders gearbeitet wird. Zwar erklärte Mihambo, jetzt sei „genau der richtige Zeitpunkt", um etwas Neues zu wagen, doch andere bleiben skeptisch. „Ich hoffe, es ist ein guter Plan so kurz vor Olympia", sagte die ehemalige Weltklasse-Weitspringerin und deutsche Rekordhalterin Heike Drechsler gegenüber „Sport1". Grundsätzlich äußerte sie jedoch Verständnis für Mihambos Maßnahme.
Exzellente Trainer
Stattdessen kritisierte sie indirekt den Deutschen Leichtathletik-Verband. „Vielleicht muss sich auch der DLV etwas mehr anstrengen, um Athleten wie Malaika zu halten", so die zweifache Olympiasiegerin. Der Verband wurde von Mihambos Wechsel kalt erwischt. Erst kurz bevor sie in der „Bild am Sonntag" ihren Wechsel in die USA ausführlich erklärte, weihte sie die DLV-Spitze in ihre Pläne ein. „Wenn Athletinnen oder Athleten eine neue Herausforderung suchen, um sich persönlich und sportlich weiterzuentwickeln, können wir sie nicht aufhalten", sagte DLV-Präsident Jürgen Kessing.
Chef-Bundestrainerin Annett Stein betonte, dass man auch in Deutschland über exzellente Trainer verfüge, die bewiesen hätten, „dass sie Weltklasse entwickeln können". Allerdings ist Malaika Mihambo nicht die erste Topathletin, die in den USA offenbar bessere Trainingsbedingungen sieht als hierzulande. Die WM-Dritte über 5.000 Meter Konstanze Klosterhalfen schloss sich 2018 dem umstrittenen Oregon Project von Nike an (und trainiert auch nach dessen Auflösung weiterhin in Übersee); Sprinterin Gina Lückenkemper, 2018 Vize-Europameisterin über 100 Meter, trainiert seit Ende 2019 vorzugsweise in Florida. Ihre Disziplinkollegin Tatjana Pinto, im vergangenen Jahr deutsche Meisterin, hält sich zwar in Wattenscheid, aber bei einem amerikanischen Coach fit.
„Es zeigt sich, dass in sehr vermarktbaren Disziplinen für außergewöhnliche Athleten dort Angebote entstehen, die ganz individuell interessant sein können. Und wir fördern auf der anderen Seite mündige Athleten, also ist man mit solchen Entscheidungen konfrontiert", erklärte DLV-Generalsekretär Idriss Gonschinska im „Deutschlandfunk". Mit der Unterstützung privater Partner seien solche Trainingsgruppen allerdings auch hierzulande möglich, meinte er. „Wir versuchen über die Idee der Thinktanks, des Wissensmanagements und der Integration von Spezialisten Alternativen zu entwickeln", so Gonschinska. Der Verband täte jedenfalls gut daran, wenn er nach Mihambos Weggang nicht zum Alltag übergehen würde, sondern daraus die richtigen Schlüsse zieht.