Seit Wochen ist samstags in Deutschland Demo-Tag. In vielen großen Städten, vor allem Stuttgart, München und Berlin, finden dann Corona-Proteste statt. Wer für was demonstriert, ist allerdings nicht immer ganz klar.
Kurt Halledal* arbeitet seit über 30 Jahren in einer Einsatzhundertschaft der Berliner Polizei und ist mittlerweile ihr Leiter. In diesem Frühjahr drohen ihm langsam die Leute auszugehen. „Ich kann mich nicht erinnern, innerhalb von acht Wochen so viel große Lagen bewältigen zu müssen", so Halledal gegenüber FORUM. Gemeint sind Demonstrationen. Auch Berlins Innensenator Andreas Geisel (SPD) bestätigt: Um diese Zeit im Jahr hätte man in den vergangenen Jahren meist um die 500 Demonstrationen gehabt, jetzt seien es bereits 700 und das trotz zeitweisem Demonstrationsverbot. Das hat Folgen. Die aufgehäuften Überstunden des Winters, die die Polizisten in den ersten Wochen der Corona-Maßnahmen abbauen konnten – die Straßen waren schließlich menschenleer – habe man jetzt doppelt und dreifach wieder drauf.
Vor allem der Samstag ist seit Wochen Demo-Tag, mit bis zu 70 Veranstaltungen. Für Polizei, aber auch für Reporter, ist dabei günstig, dass alle in der Berliner Innenstadt stattfinden, zwischen Siegessäule und Alexanderplatz. Los geht es regelmäßig um 12 Uhr im Tiergarten am Bismarckdenkmal. Dort sind die monarchistischen Gelbwesten am Start, die die Rückkehr des Kaisers fordern, wie ihr Frontmann Steffen Brehme erläutert: „Der grundsätzliche Verfassungsfehler der BRD ist, dass das Kaiserreich nie aufgehört hat zu existieren – ein Verfahrensfehler im Versailler Friedensvertrag", so der 43-Jährige. Darum müssten wir zurück in die Grenzen von 1871. Aha. Da staunt nicht nur der Laie.
Nicht mal 100 Meter entfernt zieht eine weitere Demonstration vorbei, Slogan: „Freiheit für unser Rettungsschiff Alan Kurdi". Es geht also um die Flüchtlinge im Mittelmeer. Doch die zu erwartende Pöbelei zwischen Rechten und Linken bleibt aus.
Am Platz der Republik trifft man dann wenig später auf Ellen Meyer. Die 61-Jährige hockt auf der Straße vor dem Kanzleramt und fabriziert Kreidekunst: Wahrheit, Demokratie, Offenheit, Frieden oder Menschenrechte hat sie mit Kreidestiften auf den Asphalt geschrieben und nun malt sie das alles mit bunten Blumen aus. 15 Polizisten beobachten vom Gehweg aus die Szene, einer hält das Straßenkunstwerk mit der Kamera fest. Das sei für den Einsatzleiter, zur Orientierung, ob von der Bürgerrechtlerin, wie sie sich bezeichnet, eine Gefahr ausgehe. „Das kenne ich schon aus der Wendezeit in Ostberlin im Oktober ’89, da hat die Volkspolizei meine Bilder immer fotografiert", erzählt sie nicht ohne einen gewissen Stolz. Ellen Meyer ist sich sicher, lange werde „dieses System" nicht mehr durchhalten, „das was jetzt passiert, war vor 30 Jahren der Beginn des Endes der DDR und jetzt sind die hier mit ihrem Latein am Ende". Sie, als erprobte Bürgerrechtlerin, muss es ja wissen.
Polizei macht Überstunden
Gegenüber am Bundestag haben sich die Streiter von „1 bis 19 – Für Grundrechte und Rechtsstaat" eingefunden, vielleicht 50 Personen aus ganz Deutschland, die sich über das Internet verabredet haben. Einer ihrer Sprecher ist, nicht ganz unspannend, Oberstleutnant Utz Hennig aus dem Einsatzführungskommando der Bundeswehr in Geltow bei Potsdam. Der 61-Jährige ist mitverantwortlich für den reibungslosen Ablauf der Auslandseinsätze der Bundeswehr weltweit. Auch er macht sich Gedanken, inwieweit die Corona-Maßnahmen die Grundrechte gefährden. Auf die Nachfrage, was denn seine Vorgesetzte, Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer, zu seinem politischen Engagement sagt, zuckt er mit den Schultern: „Ich stehe hier ohne Uniform und werde ohnehin in drei Jahren pensioniert." Da lässt sich auch als Oberstleutnant aus dem Führungsstab gut demonstrieren. An seiner Seite ist Barbara von Gayling-Westphal, Rechtsanwältin aus Hamburg und Staatsrechtlerin. Sie hat sich über die Bundeszentrale für politische Bildung reichlich eingedeckt mit dem Grundgesetz. Die Büchlein verteilt sie jetzt umsonst an die Passanten und auf Nachfrage erklärt sie mit Engelsgeduld, warum sich das Infektionsschutzgesetz nicht mit dem Grundgesetz verträgt.
Vor dem Reichstagsgebäude hat unterdessen Fernsehkoch Attila Hildmann diese Geduld nicht. Ihm sind nach einer Stunde die Themen ausgegangen. Da bieten sich fünf Fotoreporter bei ihrer Arbeit geradezu als Thema an. Er schimpft wie ein Rohrspatz auf die angeblich gesteuerten Medien, die alles verzerren und ihm das Wort im Munde umdrehen. Dass das bei Fotografen schwierig sein dürfte, interessiert ihn nicht weiter. Die gut 1.000 Hildmann-Jünger brüllen „Lügenpresse auf die Fresse, Lügenpresse auf die Fresse". Einsatzleiter Halledal schickt lieber mal zehn seiner Kollegen, die den Reportern, im wahrsten Sinne des Wortes, den Rücken freihalten. Dann rückt auch noch Fernseh-Comedian Oliver Pocher an. Ihn und Attila eint ein Schicksal: Sie fühlen sich als Fernsehstars und denken etwas mehr Publicity könnte nicht schaden. Die Demonstranten jubeln. Keine 200 Meter weiter hat sich Reichsbürger Rüdiger Hoffmann eingefunden. Hoffmann gehört zur Fraktion derjenigen, für die das Deutsche Reich in seinen Grenzen von 1937 weiter existiert, man verliert da schnell die Orientierung.
An seiner Seite steht Großmagd Katja vom Landgut Bahretal bei Pirna in Sachsen. Sozusagen eine völkische Kolchose mit Knecht im Stall und Recke als Leitung. „Nicht der Faktor R1 ist das Problem", klärt sie auf, „sondern Faktor R3 ist das drängendste Problem in Deutschland." Nun will die Großmagd nicht das Volk innerhalb kürzester Zeit mit Corona durchseuchen. „Es geht hier um den Reproduktionsfaktor der deutschen Frau. Jede von ihnen muss mindestens drei Kinder bekommen." Nachfragen erübrigen sich in diesem Fall.
Reichsbürger, Comedian und ein DJ
Direkt vor dem Brandenburger Tor hat sich unterdessen die Initiative „Jesus lebt" eingefunden, esoterische Heilpraktiker mit vielleicht acht Leuten. Sie tanzen für Frieden und gegen Massenimpfungen zu Goa-Klängen. Eine alternative Künstlertruppe ist deswegen stocksauer, denn eigentlich wollten sie vor dem Brandenburger Tor mit mindestens 1.000 Leuten performen. Geht nun nicht, der Westplatz ist den ganzen Nachmittag mit acht „Jesus lebt"-Tänzern belegt.
Das ist ein beliebter Trick der Versammlungsbehörde in diesen Tagen. Vor dem Wahrzeichen der Deutschen Einheit nimmt man gern die Veranstaltung, von der der geringste Ärger zu erwarten ist und behauptet dann, die hätten sich zuerst angemeldet. Yamikako und ihre Performance-Kollegen stehen nun etwas verloren vor der Volksbühne auf dem Rosa-Luxemburg-Platz herum. Kein Wunder, denn der Platz wird seit Wochen von der Polizei beinahe hermetisch abgeriegelt. Yamikako wollte übrigens für die Öffnung der Berliner Bühnen demonstrieren.
Wenige Meter weiter, auf dem Panoramaplatz unter dem Fernsehturm geht es dagegen sehr viel lustiger zu. Eine Mini-Love-Parade ist aufgefahren und demonstriert für die Öffnung der Clubs. Eine ähnliche Veranstaltung ist einige Tage vorher auf dem Landwehrkanal völlig aus dem Ruder gelaufen. Darum nun die Auflage von der Polizei, DJ Captain Future muss eine Rede halten. Was er nicht schön, aber zumindest unfallfrei über die Bühne bringt und dann tanzt die lustige Meute auch schon los, dicht an dicht, ohne Mundschutz und ein bisschen kreuz und quer rumknutschend. Fast wie damals zu Zeiten der richtigen Love Parade. Die Polizei schaut zu, denn es wäre unverhältnismäßig gewesen, diese Form des Protestes mit Gewalt aufzulösen, heißt es später auf Nachfrage. Abstandsregelungen und Mundschutzpflicht müssen da dann mal zurückstehen. *Name von der Redaktion geändert