Die Menschen sollten in Zukunft mehr Zeit für sich und die Familie haben, fordert die stellvertretende SPD-Vorsitzende Serpil Midyatli. Noch ist das Wunschdenken – aber vor 40 Jahren sei auch die 35-Stunden-Woche eine Utopie gewesen.
Frau Midyatli, Sie haben eine 30-Stunden-Woche gefordert, aber derzeit sieht es eher so aus, als würden die Menschen im Homeoffice noch mehr arbeiten als vor Corona.
Die Gefahr besteht auf jeden Fall. Wir müssen die Arbeit im Homeoffice ja alle gerade erst lernen. Aber mal zur Einordnung: Das entsprechende Positionspapier zu „Arbeit im Wandel" stammt von meinem SPD-Landesverband in Schleswig-Holstein und ist vor einem Jahr erstellt worden. Damals hat kaum jemand im Homeoffice gearbeitet. Das hat sich nun durch Corona massiv geändert, und mir ist auch klar, dass wir da jetzt nachjustieren müssen. Aber sehen Sie, so ist nun mal Politik, da müssen Ideen immer wieder der Realität angepasst werden – die 30-Stunden-Woche bleibt aber dennoch eine richtige Forderung. Vollkommen egal, ob man im Büro, im Homeoffice oder sonstwo sitzt. Wissen Sie, vor über 40 Jahren begann die Debatte um die 35-Stunden-Woche und wir haben dafür gekämpft – heute ist die in vielen Unternehmen selbstverständlich.
Aber die Zeiten der Stechuhr sind ja nun mal definitiv vorbei, wie wollen Sie denn überprüfen, wie viel Stunden die Menschen zu Hause arbeiten?
Die drohende Entgrenzung der Arbeitszeit ist natürlich gegeben, aber dafür werden wir entsprechende Tools entwickeln müssen. Wird ja auch Zeit, dass die Digitalisierung mal den Beschäftigten und nicht nur den Arbeitgebern nutzt. Es geht ja auch noch weiter: Wie müssen die Arbeitsplätze zu Hause aussehen? Was muss der Arbeitgeber bereitstellen? In den letzten drei Monaten wurde in dieser Notsituation vor allem improvisiert. Das, was wir jetzt erleben, ist also ein gigantischer Feldversuch, der aber schon jetzt zeigt, dass viel, viel mehr Homeoffice möglich ist in Deutschland. Denn die Idee, ein „Recht auf Homeoffice" festzuschreiben, kommt ja auch von der SPD. Vor zwei Jahren wurden wir dafür ausgelacht, dass das alles gar nicht geht, und nun ist es doch möglich.
Aber wie wollen sie die Entgrenzung der Arbeitszeit verhindern?
Verschiedene Unternehmen, die um das Wohl ihrer Arbeitskräfte besorgt sind, haben da schon elektronische Arbeitszeitbarrieren eingebaut. Zum Beispiel werden da die Rechner nach einer bestimmten Uhrzeit gesperrt, ab da bekommen sie keine Mails mehr oder können auch keine rausschicken. Oder Sie können nach einer bestimmten Zeit gar nicht mehr auf den Hauptserver ihrer Firma zugreifen und dann damit auch nicht arbeiten. Also da wird die IT Möglichkeiten finden, wie man die vereinbarte Arbeitszeit einhält, und so ließe sich dann auch überprüfen, wann wer gearbeitet hat. Aber der Vorteil ist natürlich, dass sie selber bestimmen können, wann sie arbeiten. Aber unsere schöne deutsche Tugend des Feierabends wird es auch im Homeoffice geben.
Aber droht sich durch Homeoffice nicht gerade das traditionelle Angestelltenverhältnis aufzulösen?
Nein, das glaube ich nicht, denn das werden nicht alles plötzlich Freiberufler, sondern sie arbeiten nur von zu Hause aus. Sie sind also weiter festangestellt. Vielleicht wird es dann ein gängiges Modell, dass man zwei oder drei Tage im Homeoffice ist und dann noch zwei Tage im Büro seinen Dienst verrichtet. Es werden mit diesem neuen Modell ja auch nicht die Tarifverträge aufgelöst. Was sehr wichtig sein wird: Wie organisieren wir zukünftig die Gewerkschaftsarbeit? Die wird nicht einfacher, wenn die Mitarbeiter nicht mehr regelmäßig zusammenkommen. Aber da weiß ich, dass die Gewerkschaften auch schauen, wie man das hinbekommt.
Eine 30-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich – soll dann der Staat die fehlenden Stunden bezahlen? Die Firmen …
... werden mir nicht vor Begeisterung die Türen einrennen, da haben Sie recht … (lacht) Aber denken Sie daran: Auch bei der Einführung der 35-Stunden-Woche hieß es, das geht nicht. Dann haben sich die Gewerkschaften mit den Arbeitgebern an einen Tisch gesetzt, plötzlich ging es doch. Und Überraschung: Die Unternehmen gibt es heute noch. Wir werden durch die fortschreitende Digitalisierung Arbeitsplätze verlieren, die Arbeit wird weniger, und darauf müssen wir mit einer Verringerung der Arbeitszeit reagieren. Sonst droht uns ein Missverhältnis: Immer mehr landen in prekären Beschäftigungsverhältnissen, immer weniger sind festangestellt. Und diesen Trend zu kürzeren Arbeitszeiten gibt es ja bereits, zum Beispiel in der Pflege.
Naja, aber nicht bei vollem Lohnausgleich.
Natürlich nicht, das nehmen die Menschen hin. Der Pflegeberuf, egal in welchem Bereich, ist derart anstrengend, dass die Mitarbeiter weniger Geld hinnehmen und lieber in Teilzeit gehen. Sie wollen zum einen mehr Zeit für sich und ihre Kinder haben, oder aber haben noch eine andere Tätigkeit, der sie nachgehen. Das ist genau der Grund, warum viele bei den Zeitarbeitsfirmen beschäftigt sind. Die bieten ihnen bessere Arbeitszeiten als viele Arbeitgeber das hinkriegen. Und die Zeitarbeitsfirmen schicken dann diese Leute wieder zu ihren alten Arbeitgebern, wo sie gerade gekündigt haben, und der zahlt dann viel mehr, weil die Zeitarbeitsfirmen ja auch Geld verdienen müssen. Wenn mir also vorgeworfen wird, die 30-Stunden-Woche ist unbezahlbar, kann ich nur sagen: Nein, das Geld ist längst da, aber viele Arbeitgeber sind einfach nicht in der Lage, individuelle Arbeitszeiten anzubieten, das machen dann halt die Zeitarbeitsfirmen.
Jetzt haben wir viel über die Arbeitswelt nach Corona gesprochen. Es gibt viele Menschen ohne Arbeit, von denen hat in den letzten Wochen keiner gesprochen: Menschen in der Grundsicherung und Hartz IV. Wo bleibt das Konjunkturprogramm für sie?
Naja. Wir haben zum Beispiel den Kinderbonus zu einem zentralen Punkt gemacht. Der hilft vor allem einkommensschwachen Familien. Und mit der Senkung der Mehrwertsteuer um drei Prozentpunkte …
… angeblich eine Idee von CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer.
(lacht) Gute Ideen haben am Ende immer viele Väter und Mütter. Das mag sein, dass die Idee von ihr kam, aber durchsetzen konnte sie diese nur mit uns. Wir haben auf jeden Fall die Mehrwertsteuer für ein halbes Jahr abgesenkt, und ich erwarte, dass diese Absenkung auch an die Verbraucher weitergegeben wird, und das kommt dann vor allem den Menschen in Grundsicherung und Hartz IV zugute, weil dann ja auch die Lebensmittelpreise sinken.
Die Lebensmittelpreise sind seit Anfang des Jahres um 15 Prozent gestiegen. Da muss Hartz IV doch auch angehoben werden, oder?
Das werden wir mit der Union nicht so einfach hinbekommen, und jetzt noch mal das beschlossene Konjunkturpaket wieder aufzuschnüren, halte ich für keine gute Idee. Wir wissen nicht, was da dann von der anderen Seite gefordert wird. Es droht die Gefahr, das Erreichte für die unteren Lohngruppen, Zukunftsinnovationen und Umwelt wieder zu verlieren, und das wollen wir jetzt nicht gefährden. Aber denken Sie auch an die 500 Millionen Euro aus dem Digitalpakt, damit sollen die Kinder beim Kauf von Computern oder Tablets finanziell unterstützt werden und das kommt ja gerade auch den Kindern aus Hartz-IV-Haushalten zugute.