Zur Risikogruppe der Corona-Pandemie gehören ältere Menschen. Das gilt für das gesundheitliche Risiko, denn finanziell tragen die Jüngeren die größere Last. Die Ruheständler dürften keine Einbußen spüren. Die Gerechtigkeitsdebatte hat begonnen.
Sozial- und Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) wird derzeit nicht müde, die von der Regierung beschlossenen Rettungsprogramme unter die Leute zu bringen. Alle werden scheinbar bedacht, jedenfalls fast alle. Eine Gruppe allerdings wird bei den vielfältigen Hilfsprogrammen derzeit gar nicht erwähnt: die rund 21 Millionen Rentner. Das hat nicht den Grund, dass der Arbeitsminister diese Gruppe übersehen hätte – dafür ist sie auch schlicht zu groß und politisch zu wichtig. Der Grund ist vielmehr der, dass er für sie vor Jahren Vorsorge geschaffen hat, sodass ihnen keine Krise etwas anhaben kann.
So geschehen 2018, als Heil die „doppelte Haltelinie" bei der Rente einführte. Kein Mensch konnte damals ahnen, wie schnell diese Regelung wieder wichtig werden würde. Sie verhindert, dass die (Standard-)Rente unter 48 Prozent des Durchschnittsverdienstes sinkt. Das gilt bis 2025. Vor zwei Jahren war der Sinn davon nicht klar, denn die Zeiten waren gut. Der Arbeitsmarkt war in gutem Zustand, die Löhne und Renten stiegen. Was hatte es da für einen Sinn, eine Untergrenze für die Rente zu garantieren?
Der Sinn zeigt sich nun – und Hubertus Heil hat den Rentnern damit einen großen Gefallen getan. Still und heimlich wurde damals der sogenannte Nachholfaktor ausgesetzt. Dieser dient dazu, den Rentenanstieg zu bremsen, wenn zuvor eine Rentenkürzung angestanden hätte, diese aber aufgrund der Schutzklausel, der Rentengarantie, nicht eingetreten ist.
Was bedeutet das? Nach der Rentenformel verändert sich die Rente grundsätzlich erst einmal nach der Entwicklung der Durchschnittsverdienste. Wenn diese steigen, steigen die Renten entsprechend, mit einem Jahr Verzögerung. Und da das Jahr 2019 ein sehr gutes Jahr für Lohnempfänger war und die Löhne kräftig in die Höhe gegangen sind, bekommen zum 1. Juli nun auch die Rentner einen kräftigen Schluck aus der Pulle: Die Renten steigen nun um 3,45 Prozent im Westen und 4,2 Prozent im Osten.
Überhaupt waren die vergangenen 20 Jahre gut für die Rentner. Zwischen 2000 und 2020 gab es insgesamt 16 Rentenanpassungen nach oben. Insgesamt kletterten die Renten in diesen Zeitraum um 33 Prozent im Westen und 44 Prozent im Osten Deutschlands. Allerdings sind in dieser Zeit auch die Kosten für die Lebenshaltung gestiegen, wenngleich weniger stark. Nun also Corona. Wie schwer die Rezession wird und wie schnell die Erholung einsetzt, kann noch keiner sagen. Was aber passiert, wenn die Löhne sinken sollten? Das ist zwar schwer vorstellbar, aber möglich.
Schutzklausel verhindert, dass Renten sinken
Millionen Kurzarbeiter erhalten deutliche Gehaltsabschläge von bis zu 40 Prozent. Das könnte dazu führen, dass die Durchschnittsverdienste insgesamt sinken. Dann müssten eigentlich auch die Renten sinken – können sie aber nicht, weil es seit 2009 eine Schutzklausel gibt: Renten können nicht sinken – basta.
Natürlich war damals klar, dass das ausgeglichen werden musste. In den Folgejahren sollten daher, so der Gedanke, die Anstiege entsprechend reduziert werden, um diesen Effekt wieder „reinzuholen". Er wird daher mit den eigentlich anstehenden Rentenerhöhungen der Folgejahre verrechnet. Die Entwicklung der Rente wird damit sozusagen kurzfristig etwas abgekoppelt von den Löhnen, aber langfristig stimmt die Rechnung wieder.
Rentengarantie und Nachholfaktor gehören also logisch zusammen. Ohne Nachholfaktor würde die Rentengarantie das Umlagesystem aus dem Gleichgewicht bringen. Doch genau diesen Nachholfaktor hat Hubertus Heil vor zwei Jahren ausgesetzt. Sollten nun also die Renten am Sinken gehindert werden, könnten sie in den Folgejahren dennoch wieder wie gehabt steigen – ein Bruch mit der Logik der Rentenformel. Bert Rürup, der wohl erfahrenste Rentenexperte Deutschlands, nennt diesen „Schönwetterbeschluss aus dem Jahr 2018" klipp und klar einen Fehler. Es sei falsch gewesen, „dass Hubertus Heil das damals ohne Not geändert hat." Axel Börsch-Supan, ebenfalls ein bekannter Rentenexperte, kritisierte Minister Heil heftig, die „Balance zwischen den Jungen und den Alten ist außer Kraft gesetzt". Börsch-Supan vermutet, die Corona-Pandemie werde „deutliche Spuren in der gesetzlichen Rentenversicherung hinterlassen". Diese Effekte wirkten aber stark asymmetrisch, nämlich zugunsten der Rentenempfänger.
Hubertus Heil steht wie kaum ein Vorgänger für eine großzügige Rentenpolitik. Zwar kann er als Minister die Höhe der Renten nicht frei bestimmen. Sie ist durch die Rentenformel im Großen und Ganzen vorgegeben. Allerdings lässt sich mit kleinen Eingriffen an diesem oder jenem Faktor doch einiges erreichen. Neben der Einführung der Mütterrente, der Rente ab 63, der doppelten Haltelinie und der noch nicht endgültig beschlossenen Grundrente hat es in den vergangenen Jahren viele gute Nachrichten für Rentner gegeben.
Steigender Bundeszuschuss
Das bedeutet nun in Corona-Zeiten eine ganz neue Ungerechtigkeit. Während viele Millionen Menschen unmittelbare wirtschaftliche Einbußen hatten und haben, sind Rentner und Beamten-Pensionäre finanziell praktisch nicht betroffen. Sie können sich relativ sicher sein, dass sie keine Einbußen erleiden werden.
So werden die Kosten für die Renten in den kommenden Jahren deutlich steigen. 2019 betrug die Summe der Rentenauszahlungen 319 Milliarden Euro. Da die Regierung garantiert hat, dass die Rentenversicherungsbeiträge, die die Beschäftigten jeden Monat zahlen, nicht über 20 Prozent des Bruttoeinkommens steigen dürfen, muss das Geld woanders herkommen: aus dem Bundeshaushalt. Dieser Bundeszuschuss steigt von Jahr zu Jahr, weil anders die beiden Garantien an Rentner und Beitragszahler nicht zu erfüllen sind. Vergangenes Jahr waren es bereits 72 Milliarden Euro. Es dürften jetzt in den kommenden Jahren deutlich mehr werden, wenn die Einnahmen aus den Beiträgen sinken werden, aber die Ausgaben weiter steigen: Nach Schätzungen dürfte die Rentenversicherung in diesem Jahr acht Milliarden Euro weniger einnehmen als im vergangenen. Noch verfügt die Rentenkasse über hohe Rücklagen – Ende 2019 waren das gut 40 Milliarden Euro. Nach internen Schätzungen dürfte diese Reserve bis Ende 2020 auf 36 Milliarden Euro abschmelzen. Das erscheint erst einmal beherrschbar.
Das viel größere Problem aber ist, dass eine höhere Arbeitslosigkeit die Einnahmen zurückgehen lässt. Aktuell dürften Millionen Kurzarbeiter die Rentenkasse zusätzlich belasten. Zudem geht derzeit und in den kommenden Jahren die Babyboomer-Generation in Rente. In den kommenden zehn Jahren steigt die Zahl derjenigen, die ins Rentenalter kommen, weiter an, bis sie wieder sinken wird. Das wird die Rentenkasse zusätzlich belasten. In den vergangenen Jahren wurden die finanziellen Belastungen kaum bemerkt, weil die gute Konjunktur und Quasi-Vollbeschäftigung alle Probleme lösen konnten. Doch gute Konjunktur ist nicht nachhaltig. Nun könnte die Schönwetterperiode zu Ende sein. Dann dürfte es sich für Heil ausgezahlt haben, die Rente vor Abschlägen gesichert zu haben.