Berlins Museums- und Galerieszene erwacht nach dem Schock der krisenbedingten Schließperiode langsam zum Leben. Gut zwei Monate hat sie gedauert – jetzt können Besucher unter Auflagen wieder Kunst live erleben.
Eigentlich sollte Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller Ende März die Schau „Zu wenig Parfüm, zu viel Pfütze" im Bröhan-Museum eröffnen. Bekanntermaßen machten die Corona-Maßnahmen dem einen Strich durch die Rechnung und brachten das Kulturleben der Hauptstadt – von vielen digitalen Angeboten abgesehen – vorübergehend zum Erliegen. Die fertige Ausstellung über Leben und Werk Hans Baluscheks anlässlich dessen 150. Geburtstag, eine Schau mit gut 100 hochrangigen Exponaten, wartete auf Besucher, das Museum auf Einnahmen.
Noch ist nicht absehbar, ob die entstandenen Verluste im strengen Corona-Regiment wettgemacht werden können, zumal auch Führungen und Workshops entfallen. Nur 30 Besucher, limitiert durch desinfizierte Plastikchips, sind gleichzeitig zugelassen. Sie erwartet ein umfangreicher Einblick in das Œuvre des am 9. Mai 1870 in Breslau geborenen Hans Baluschek, dessen Familie bereits 1876 nach Berlin-Kreuzberg umzog. Da hatte der Vater, stolzer Eisenbahningenieur, das Interesse seines kleinen Sohnes schon geweckt. Eisenbahnen werden im Werk des späteren Künstlers immer wieder eine Rolle spielen. Nach Abitur und Studium an der Königlichen Akademie der bildenden Künste arbeitet Baluschek ab 1893 als Freiberufler mit kritischem Blick auf die Zustände in der aufstrebenden Industriemetropole Berlin.
Im Dschungel der -ismen jener Zeit forscht er nach dem eigenen Ausdruck, wird scharfer Beobachter krasser Klassenunterschiede und bald aktives Mitglied der SPD. Entgegen den Vertretern einer „akademischen" Malweise wendet er sich in seinen Werken den Lebensbedingungen der Unterprivilegierten zu, porträtiert Arme, Kranke, Prostituierte, Trinker, oft in komprimiert komponierten Bildinszenierungen. Was ihn, wie er schreibt, „berührt, ergreift, packt, erschüttert", das bildet er ab, in Öl, Aquarell, Mischtechnik. So als „Sonntagssänger" eine gebeugte Greisin und ihre desillusionierte Tochter; die welke Akkordeonistin im Zentrum von „Heimkehr", die niemand beachtet; in „Hier können Familien Kaffee kochen" Frauen mit verhärmten Gesichtern hinter riesigen Kannen.
Wacher Beobachter sozialer Ungleichheiten
„Ein Toter" liegt ausgebreitet am Boden, die letzten Fußspuren hinter sich. Abgeschnitten wie sein Leben spiegeln sich kahle Bäume am Bildrand in Schneelachen. Mumienhaft verhüllt liegt eine ertrunkene Person auf Kanalstufen; wie abgestürzt hängt in „Mord" aus dem gleichen Zyklus „Opfer" die Frau verrenkt im Weiß eines Abhangs. „Der Irre", wie er gefurcht, zerbeult, vor Krampf schief, im Schwarz des zerschlissenen Mantels vorwärtsdrängt, strahlt eine ungeheure Dynamik und zugleich Sprengkraft aus. In „Elend" sitzt eine Gezeichnete mit wirren Augen barfuß an einem Mast, hinter sich auf ödem Land Industriearchitektur als Symbol für die möglichen Verursacher ihres Leids.
Baluscheks „Eisenwalzwerk" von 1910, düster glühend, hat nicht mehr jene triumphale Fortschrittsgläubigkeit, die Adolph von Menzels gleiches Sujet 35 Jahre früher ausstrahlt. Wie die Frauen auf „Mittag bei Borsig" mit Essen ihre Männer erwarten; wie stumpfe „Arbeiterinnen" kanalisiert neben dem dunklen Zaun ihrem Werk entströmen; wie müde Malocher zwischen Brettern dem „Feierabend" entgegengehen, erwartet von Frau und Kind – all das hat wenig Idyllisches, auch wenn ein Mädchen für den Vater ein Sträußchen bereithält. Stets erweist sich Baluschek als wacher Beobachter gesellschaftlicher Ungleichgewichte im Alltag. Im „Berliner Rummelplatz", dessen Karussell als gleißendem Tempel der Verheißung alles zueilt und dabei die Knabennot am Bildrand übersieht oder im „Großstadtwinkel" mit seinem nobel getarnten Straßenstrich.
Doch der Künstler weiß auch ironisch optimistische Akzente zu setzen. Die rot gewandete Tänzerin in „Tingeltangel", die auf der Bühne neben Kaiserbüste und Flagge ihr Kleid lüpft, schaut aus einer erhobenen Position fast mitleidig auf die männlichen Voyeure; sie bleibt unangetastet Siegerin, Beglückerin, eine gütige Mutter. Das vielleicht anrührendste Motiv der Schau: „Arme Liebe", ein umarmt schreitendes Paar zwischen Kohlelore und Baumstumpf, er sichtlich Arbeiter, sie mit seinem Kind unterm Kleid, alles beschienen von matter Sonne. Baluschek selbst fiel ab der braunen Ära in Ungnade, verlor alle seine Ämter, starb 1935, bevor der Terror ihn hätte rabiater heimsuchen können. Als ein Großer hat er seine Stellung in der Kunstgeschichte – mit Wirkung in die Gegenwart.
Auch Bettina Pousttchi, 1971, also gut ein Jahrhundert später geboren, richtet ihren Blick auf den Berliner Stadtraum, der sich freilich enorm gewandelt hat. In der Berlinischen Galerie, die übrigens mit Leihgaben an der Baluschek-Ausstellung beteiligt ist, zeigt sie, verteilt auf drei Räume, unter dem Titel „In Recent Years" Skulpturen und eine Serie von Fotografien.
Die Stadt aus zwei ganz unterschiedlichen Perspektiven
Die gebürtige Mainzerin studierte an der Kunstakademie Düsseldorf, danach in Paris, im Anschluss Philosophie, Kunstgeschichte und Filmtheorie in Köln. Pousttchi arbeitet an der Schnittstelle von Plastik, Foto und Architektur. Gleich am Eingang der Galerie bietet sie dafür ein Beispiel: Das Glas der weitläufigen Fassade hat sie mit einem gitterartigen Ornament überzogen. Drinnen, in den Räumen von beeindruckender Höhe und Weite, stellt sich nicht das Problem einer derzeit streng begrenzten Besucherzahl, man kann sich gut aus dem Weg gehen. In der ersten Abteilung konfrontieren den Gast fünf Gruppen verformter, matt monochrom in Signalrot, Bordeauxrot respektive Silbergrau gestrichener Leitplanken, wie sie sonst horizontal Weggrenzen markieren. Zu gebrechlichen, leidenden, tanzwilden Gebilden sind sie wie Garben gebogen und verwunden, stehen abgespreizt in weitem Ausfall. Starrheit, Sperrigkeit, Linearität des Metalls lösen sich dabei in eine Leichtigkeit und Durchlässigkeit auf, die man beim Umgang aus stets neuem Blickwinkel erfährt.
Der dritte Raum überrascht mit einem ähnlichen Ausgangspunkt, indes ganz anderem Ergebnis. Hier sind es silbrig polierte Straßenpfosten in ihrer Gliederung, farbige Baumschutzbügel und Fahrradständer, die sich zu verkeilten, durchdrungenen, niedrig gepressten oder aufragenden, in jedem Fall gewaltsam verformten Skulpturen fügen. Manche stehen fest auf dem Boden, andere Segmente schweben wie getragen von den übrigen Teilen in der Luft. Das bietet Freiraum für die eigene emotionale Deutung.
Zwischen beiden Räumen hängen großflächige Fotos des gleichen Formats an den Wänden. Alle zeigen sie Uhren, alle dieselbe Zeit: 13:55 Uhr. Aufgenommen hat Bettina Pousttchi die 24 Motive bei Reisen zwischen 2008 und 2016 auf fünf Kontinenten. Wie durch eine aufgebrachte Jalousie blickt man stets auf das Zifferblatt und erfährt Zeit als globales Phänomen, ob aus Anchorage oder Yangon, Asunción oder Sydney, Berlin oder Bangkok. Feinnetzig verziert sind die Zifferblätter oder rein funktional, haben zugeordnet Zahlen oder nur nüchtern Striche im Wissen um internationale Lesbarkeit. Alltägliches wird so zu Kunst.