Die Corona-Maßnahmen drohen eine Spur der Verwüstung vor allem im Einzelhandel zu hinterlassen. Prominenteste Verlierer: 5.371 Mitarbeiter von Galeria Kaufhof Karstadt. Gewinner: Onlinehändler wie Amazon. Doch davon haben die Mitarbeiter wenig – außer mehr Arbeit bei gleichem Lohn.
Das haben eigentlich Amazon-Mitarbeiter von dem Boom des Online-Handels in Zeiten der Pandemie? Vermutlich nicht viel, war die Meinung innerhalb der FORUM-Redaktion. Man beschloss, der Sache auf den Grund zu gehen. Es klang nach Routine: bei Amazon vorbeigehen und sich die Arbeitsbedingungen vor Ort anschauen. Dazu vielleicht eine kleine Umfrage unter Mitarbeitern, Statements vom Leiter des Verteilzentrums, wie sich die Lage verändert hat. So weit die Idee. Doch schon bei der Vorrecherche stieß der Reporter schnell auf Schwierigkeiten. Amazon schirmt sich von der Außenwelt weitgehend ab. Das fängt schon bei der Erreichbarkeit an. Die Pressestelle bevorzugt offenbar lieber eine eher unpersönliche Anfrage als den persönlichen Kontakt, per Telefon ist die deutsche Pressestelle des Konzerns jedenfalls nicht zu erreichen. Im Gespräch mit den für Amazon zuständigen Vertretern der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi aus Berlin und Brandenburg schmunzeln diese nur.
Amazon nicht auskunftsfreudig
„Der weltgrößte Online-Händler ist nicht ganz so auskunftsfreudig, wie wir Gewerkschafter, aber auch sicherlich die Medien, es sich wünschen würden", heißt es. Dass die Kommunikation zwischen Verdi und Amazon reichlich gestört ist, liegt am längsten Tarifkonflikt, den es je in Deutschland gegeben hat. Seit über sieben Jahren währt der Streit. Die Gewerkschaft fordert für die Mitarbeiter in den deutschen Amazon-Versandzentren tarifliche Regelungen, wie sie im Einzel- und Versandhandel üblich sind. Amazon beharrt dagegen darauf, dass der weltgrößte Versandhändler als Logistikunternehmen zu bewerten ist. Damit gelten die Vereinbarungen der Logistikbranche und bilden die Grundlage für die Tariflöhne. Doch in der Logistikbranche wird mehr als ein Euro pro Stunde weniger bezahlt als im Einzel- und Versandhandel. Würde sich Amazon auf den höheren Tarif einlassen, könnte das, bei 13.000 festangestellten Mitarbeitern in Deutschland, pro Monat gut drei Millionen Euro Mehrkosten für Amazon bedeuten – der Konzern beklagt jetzt schon, dass er zwar mehr Umsatz, doch weniger Gewinn durch die Corona-Schutzmaßnahmen für die Mitarbeiter macht. Unterdessen stellt Konzernchef Jeff Bezos Mitte Juni klar: Auch wenn die Umsätze durch die Pandemie gestiegen sind, habe man durch diesen Ausnahmezustand auch wesentlich höhere Ausgaben. Der Quartalsgewinn ist um 30 Prozent auf 2,5 Milliarden Dollar gesunken. Für Verdi und die 13 Verteilzentren in Deutschland heißt das: weniger Spielraum für generelle Lohnerhöhungen. Derzeit verdient ein Packer im Schnitt pro Stunde 11,16 brutto. Der gesetzliche Mindestlohn in Deutschland liegt bei 9,35 Euro.
Doch Verdi geht es nicht nur um den Lohn, sondern auch um die Situation der Mitarbeiter. Immer wieder wird der Job in den Verteilzentren von den Mitarbeitern als „eintönige Roboterei" beschrieben. „Gerade die letzten Wochen in der Corona-Krise waren die Hölle. Wir hatten bei uns im Verteilzentrum Brieselang (Brandenburg, Anm. d. Red.) wochenlang teilweise bis zu 40 Prozent mehr Bestelleingänge, aber selbstverständlich nicht 40 Prozent mehr Personal," berichtet eine Mitarbeiterin gegenüber FORUM, die anonym bleiben möchte. Derzeit stellt das Unternehmen laut eigenen Aussagen jedoch „einige Hundert" neue Mitarbeiter ein. „Wir wissen, dass viele Menschen wirtschaftlich betroffen sind, da Arbeitsplätze in Bereichen wie Hotels, Restaurants und Reisen als Teil dieser Krise wegfallen. Wir möchten, dass diese Menschen wissen, dass wir sie in unseren Teams willkommen heißen, bis sich die Dinge wieder normalisieren und ihr früherer Arbeitgeber in der Lage ist, sie weiter zu beschäftigen", heißt es aus der Amazon-Presseabteilung. Eine zuvor in Aussicht gestellte temporäre Lohnerhöhung wurde laut Amazon in Deutschland und Österreich bis Ende Mai ausgezahlt: Hier sind es zwei Euro brutto mehr pro Stunde. „Jetzt, da Einschränkungen in ganz Europa gelockert wurden und auch der Einzelhandel wieder geöffnet hat, gehen wir zurück auf unseren normalen Lohn. Die Mitarbeiter in den europäischen Amazon-Logistikzentren verdienen ein sehr wettbewerbsfähiges Grundgehalt", so ein Amazon-Sprecher auf schriftliche Anfrage gegenüber FORUM.
Mehr Arbeit, zu wenig Personal
Zwar gibt es im Verteilzentrum Brieselang einen Betriebsrat, der aber verwies immer „auf die besondere Situation und dass wir nun als Belegschaft zusammenhalten müssen, um die Aufgaben zu stemmen". Auf Nachfrage bei Verdi Brandenburg heißt es: „Die Situation ist uns bekannt gewesen, nur haben wir leider keinen Einfluss mehr auf den Betriebsrat. Der Betriebsratsvorsitzende ist neu im Amt und nicht Mitglied bei uns. Damit haben wir kaum noch Kontakt zu Amazon." Der Vorgänger und zwei seiner damaligen Stellvertreter waren noch Mitglied bei Verdi, mit der Gewerkschaft in gutem Kontakt. Mit Spekulationen über das Warum des Wechsels hält sich Verdi jedoch zurück. Man will die Gesprächssituation mit Amazon nicht unnötig vergiften. Doch die Gewerkschafter sind befremdet darüber, dass ein „gewerkschaftsferner" Betriebsrat gewählt wurde.
Anders läuft es da bei Amazon in Hessen. Im Verteilzentrum Bad Hersfeld ist Verdi als Gewerkschaft stark verankert in der Belegschaft und die Bad Hersfelder lassen sich nicht alles gefallen. Ihr starker Mann heißt Christian Krähling und hat über das Verdi-Portal eine Online-Petition für vernünftige Arbeitsbedingungen bei Amazon Hessen gestartet. Der 36-jährige Kundenbetreuer hat wie viele seiner Kollegen als Packer an der Rampe angefangen und beschreibt den Job als sehr hart. „Viele Kolleginnen fühlen sich als Teil einer Maschine. Entsprechend hoch ist die Krankenquote. An einigen Tagen bis zu 20 Pozent und darüber", schreibt Krähling in der Petition. Die permanente Überlastung der Mitarbeiter durch immer höhere Anforderungen führe zu „Muskel-, Skelett- und psychischen Erkrankungen". Erschwerend kommt hinzu, dass Amazon nach dem Prinzip „Standard-Work", arbeitet. Alle Arbeitsprozesse werden nach bestimmten Regeln und an jedem Standort weltweit gleich durchgeführt. Ähnlich wie bei den US-Unternehmen Coca-Cola oder McDonald‘s. Das System nimmt dabei keine Rücksicht auf die Unterschiede der Mitarbeiter. „Zum Beispiel muss ein kleinerer Mensch an einem Tisch arbeiten, der für ihn eigentlich nicht geeignet ist. Oder ein älterer Kollege muss genauso viel kommissionieren wie ein jüngerer." Aus diesem Grund, so Krähling, hätten viele Mitarbeiter längst innerlich gekündigt. Doch die Wenigsten setzen das dann auch in die Tat um. Kein Wunder: Amazon siedelt sich meist in strukturschwachen Gebieten an, wo Arbeitsplätze rar und die steuerlichen Förderungen hoch sind. Dazu kommt: Ein großer Teil der deutschlandweit Beschäftigten wird ohnehin nur befristet eingestellt, meist für zwei Jahre. „Doch wer befristete Verträge hat, kann sein Leben nicht planen." Obendrein, so Christian Krähling „wird jeder unserer Arbeitsschritte überwacht. Jeder soll möglichst über dem Durchschnitt liegen, doch das ist mathematisch unmöglich. Gerade für die befristeten Kolleginnen ist der Leistungsdruck hoch."
Kampf zwischen Verdi und Amazon seit sieben Jahren
Diese Unzulänglichkeiten sind seit Jahren bekannt. Auch Teile der Politik kritisieren immer wieder die Arbeitsverhältnisse bei Amazon. Für die arbeitsmarkpolitische Sprecherin der Linkspartei, Sabine Zimmerman, ist es absolut nicht nachvollziehbar, dass der weltgrößte Onlinehändler damit in Deutschland seit über einem Jahrzehnt durchkommt. „Amazon macht alleine in Deutschland über sieben Milliarden Euro Umsatz, zahlt aber so gut wie keine Steuern. Gleichzeitig hat Amazon für die Errichtung seiner Versandzentren Millionen an Subventionen aus der öffentlichen Hand bekommen und versucht dann noch ständig, die deutschen Arbeitnehmer-Standards zu unterlaufen", so Zimmermann. Doch die Geschäftsleitung von Amazon Deutschland sitzt definitiv am längeren Hebel. Gerade in Zeiten einer heraufziehenden Konjunkturabschwächung und drohendem massiven Anstieg der Arbeitslosigkeit, spätestens im Herbst. „Die Geschäftsleitung von Amazon lehnt weiterhin jegliche Verhandlungen mit uns kategorisch ab, obwohl wir mehrfach Kompromissbereitschaft gezeigt haben. Unsere gewerkschaftlichen Vertreter, die Vertrauensleute und unsere Tarifkommission werden von der Geschäftsleitung nicht als Gesprächspartner akzeptiert."
Nicht nur Verdi-Mann Krähling ist klar, die Verhandlungsbasis mit Amazon wird in den kommenden Monaten nicht einfacher. Markus Hoffmann, Einzelhandelsexperte von Verdi in Brandenburg bringt es gegenüber FORUM auf den Punkt: „Was sollen denn jetzt die Mitarbeiter von Galeria Kaufhof Karstadt machen, die in den kommenden Wochen ihren Job verlieren? 62 Filialen werden bundesweit aufgegeben. Vielen der betroffenen Mitarbeiter bleibt doch gar nichts anderes übrig, sie werden sich auch bei Amazon bewerben müssen, wollen sie nicht im Sommer nächsten Jahres, nach dem Auslaufen des Arbeitslosengeldes I, in Hartz IV landen."
Ideale Vorrausetzungen also für Amazon. Erschwerend für Verdi kommt hinzu: In den Verteilzentren der Online-Händler bedarf es dank durchdigitalisierter Arbeitsabläufe in der Masse keiner Fachkräfte. Die bestellten Produkte müssen in Pakete gepackt und diese dann vom Regal zur Lieferrampe gebracht werden. Dazu muss man nicht mal mehr zwingend fließend Deutsch sprechen können. Mitarbeiter, die froh über den „Rampenjob" für brutto 11,71 Euro sind, sind in der überwältigenden Mehrheit nicht gewerkschaftlich organisiert, wissen womöglich nicht, welche einklagbaren Rechte sie als Arbeitnehmer in Deutschland besitzen.
Gewerkschaftsmitarbeiter sind mittlerweile dazu aufgerufen, ihren Bürobedarf nicht bei den großen Online-händlern zu bestellen, sondern beim stationären Einzelhandel in der Nähe. Sicherlich ein schöner solidarischer Akt. Aufhalten wird dies Onlinehändler wie Amazon aber nicht.