Wie Kinder und Eltern die sogenannte Wackelzahn-Pubertät überstehen
Das Grauen hat einen Namen: Die Wackelzahn-Pubertät ist der Schrecken aller Eltern mit Kindern zwischen fünf und zehn Jahren. In dieser Lebensphase beginnen die ersten Milchzähne zu wackeln, doch sie sind allenfalls ein Symptom dieses Lebensabschnitts. Die Kleinen fangen an, sich gegen ihre Eltern aufzulehnen, diskutieren über vieles und reagieren äußerst empfindlich. Dabei sind die Umstände alles andere als stabil: Im Vorschulalter merken die Wackelzahn-Kinder, dass die Kindergarten-Schonzeit langsam zu Ende geht. Viele von ihnen sind ob des neuen Lebenskapitels Schule voller Vorfreude und zugleich verunsichert.
Zugegeben, der eingangs erwähnte populärwissenschaftliche Begriff war mir bis vor Kurzem auch nicht geläufig, und ich las darüber eher zufällig in einem Artikel. Weil ich meinen damals fünfjährigen Sohn besser verstehen wollte, meldete ich mich bei einer Onlineplattform an und ließ mir zu verschiedenen Themen Links schicken. Zuerst dachte ich: Haha, wie lustig, was sich pubertätsgebeutelte Eltern und Ratgeber-Autoren da wieder ausgedacht haben. Doch dann stellte ich ziemlich schnell fest: Da ist wirklich was dran.
Wie es ist, mit einem Kind zusammenzuwohnen, das noch an die Zahnfee glaubt und andererseits schon weiß, was cool ist, das weiß ich nur allzu gut. Das Schwanken zwischen zwei Polen umschreibt recht gut den Gefühlszustand der frühpubertierenden Kids. In einem Moment ist mein Sohn ein kuschelbedürftiges Kleinkind, das auf Papas Schoß klettern will – aber wie so oft von seinem Papa vertröstet wird, weil der gerade noch in Ruhe essen möchte. Im nächsten Moment steht vor mir ein wütender Sechsjähriger, der mich kneift, kratzt oder mit seiner kleinen Faust boxt – worauf sein Papa meistens entnervt reagiert und ihn anfährt.
In der neusten Eltern-Ratgeber-Literatur ist nachzulesen, dass man in dieser ach so schwierigen Zeit für sein Kind Verständnis haben, ihm jederzeit mit Respekt begegnen und mit ihm auf Augenhöhe kommunizieren soll. Alles schön und gut – aber manchmal verliert man einfach die Beherrschung, fährt sein Kind an, weil es zum x-ten Mal eine weitere Lassie- oder Shaun-das-Schaf-Folge rausschlagen will. Oder wenn das Kind einen anderen Weg zum Bäcker gehen will als Papa und sich partout stur stellt – ebenso sturköpfig wie der Vater. Doch fast immer fühle ich mich danach schlecht, bereue, was ich gesagt habe – und entschuldige mich bei ihm.
Das leidige Rummeckern am selbst gekochten Mittag- und Abendessen nimmt mitunter groteske Züge an. Während die zweieinhalbjährige Tochter noch offen ist für neue Geschmacksrichtungen, aber auch schon mal das Essen wieder auf den Teller spuckt, wird vom Sechsjährigen am Küchentisch das Gemüse auf dem Teller mit „Kacka" und „Pups" beschimpft und so erst recht unappetitlich gemacht. Man ist fast geneigt, den Kindern aus der Küche zuzurufen: „Das Essen ist fertig, Kinder kommt meckern!"
Je mehr ich über die sogenannte Sechs-Jahres-Phase lese, umso mehr ziehe ich Positives daraus – weniger für mich als für meinen Sohn. Er ist eben in einem Alter, in dem er keine Lust mehr hat, alle Regeln unhinterfragt zu akzeptieren, sondern auch mal auszuscheren. Zunehmend stellt er das, was Mama und Papa sagen, infrage. Das ist ebenso bestürzend für die betroffenen Elternteile wie völlig altersgerecht. Er entwickelt zu allem Möglichen eine eigene Meinung: zu Autos, Menschen, Essen, Büchern und Filmen. Und er besteht auf seiner Privatsphäre, zum Beispiel im Bad, wenn er auf dem Klo sitzt oder wenn er allein ungestört spielen will.
Das Tolle ist, dass die Wackelzahn-Kinder immer mehr ihre eigene Persönlichkeit entdecken. Mehr noch: Sie erleben sich als Individuen, als einzigartig und besonders. Umgekehrt erwarten sie von ihren Eltern, dass sie von ihnen als eigenständige Persönlichkeit mit eigenen Wünschen und Bedürfnissen wahrgenommen und akzeptiert werden.
Die Wackelzahn-Pubertät ist nur ein weiterer Entwicklungsschritt im Leben eines Kindes. Diese Erkenntnis finde ich zum einen durchaus beruhigend. Doch nun treibt mich allerdings auch eine andere Sorge um: Wenn es jetzt schon so nervenaufreibend mit einem Sechsjährigen ist, wie wird dann erst die richtige Pubertät im Teenager-Alter?