Es soll die größte Änderung der Verfassung in der russischen Geschichte werden. Schon vor dem Votum am 1. Juli ist für die Mehrheit der Russen klar: Putin kann bleiben, bis er 83 ist. Damit verliert das Land die letzte Hoffnung auf liberale Reformen.
Zugegeben, auf den ersten Blick wirken die Änderungen der russischen Verfassung gar nicht so verkehrt. Wer hat schon etwas gegen die regelmäßige Anpassung der Renten an die Entwicklung des Lohnniveaus? Oder gegen die Einführung eines Mindestlohns? Oder die Erhebung von Kindern zur „obersten Priorität" des Landes? „Allesamt sehr wichtige Punkte, die uns Russen zu einer besseren Zukunft führen werden", agitiert Passantin Anna Sergeevna Danko bei einer im russischen Staatsfernsehen ausgestrahlten Straßenumfrage. „Deswegen werde ich am 1. Juli auch für die Änderungen der Verfassung, ein stabiles Russland und einen starken Präsidenten stimmen. Das ist die einzig richtige Wahl", verkündet sie stolz in die Kamera. Bekannt ist Danko in Russland übrigens nicht.
Sie hat keine staatlichen Aufgaben, engagiert sich nicht mal politisch. „Ich bin eine ganz einfache Frau aus dem Volk", stellt sich die scheinbar zufällig ausgewählte Rentnerin im Rahmen der Umfrage vor Millionen russischer TV-Zuschauer vor. Eine, die eben ihr Land liebt.
Und dann gibt es noch die anderen, die der Logik von Danko nicht folgen und deshalb Russland wohl auch nicht so lieben wie sie. Genau 427 Russen –
wdazu zählen führende Künstler, Juristen, Schriftsteller, Journalisten und Wissenschaftler des Landes – veröffentlichten bereits Mitte März auf der Webseite des Hörfunksenders Echo Moskwy einen Brandbrief. Dort werden die angedachten Änderungen der Verfassung – vor allem der Vorschlag zur Annullierung von Putins bisherigen Amtszeiten – als „illegal und politisch und ethisch inakzeptabel" beschrieben. Es heißt, dass das „Land von einer tiefen Verfassungskrise und einem illegalen verfassungswidrigen Staatsstreich in pseudo-legaler Form bedroht ist." Somit untergräbt diese Entwicklung dem Brandrief zufolge nach und nach auch „die Möglichkeit der evolutionären Entwicklung unseres Landes auf den Grundsätzen der Demokratie und Freiheit". Diese Meinung vertritt auch der führende Oppositionelle der Russischen Föderation, Rechtsanwalt Alexei Nawalny. „Die Frage ist nun, wer wohl die größeren Patrioten unseres Landes sind, wir oder sie?", scherzt er auf seinem Youtube-Chanel „Position der Opposition".
„Illegaler Staatsstreich"
Um diese Frage beantworten zu können, muss man sich die vorgeschlagenen Änderungen genauer anschauen. Zu den prominentesten Punkten zählt dabei die Annullierung der bisherigen Amtszeiten des Präsidenten. Vorgeschlagen wurde dieser Punkt übrigens nicht von Wladimir Putin selbst – dafür kennt sich das Oberhaupt des russischen Staates zu gut mit volkswirksamen Inszenierungen aus. Das durfte die mit dem goldenen Stern einer Heldin der Sowjetunion ausgezeichnete Kosmonautin und Abgeordnete Valentina Tereshkowa übernehmen. Sie war eine der rund 500 prominenten Russen, die an der Verfassungsänderung mitgearbeitet haben sollen. „Auch wenn Wladimir Putin – bescheiden wie er ist – diese Möglichkeit nicht in Betracht ziehen möchte, erneut zu kandidieren – sollte er das tun", verkündete sie Mitte März in der zweiten Lesung der Verfassung, und ergänzte: „Das wäre das Beste für das russische Volk." Im Rahmen der bisher geltenden Verfassung hätte Putin maximal bis 2024 im Amt bleiben können. Falls die Änderungen beschlossen werden, könnte Putin bis zu seinem 83. Lebensjahr, nämlich bis maximal 2036, an der Macht bleiben.
Alle, die Putin dann folgen, dürfen nur maximal zwei Amtszeiten und somit zwölf Jahre präsidieren. Dabei ist es nicht der einzige Punkt, der die Macht des Präsidenten stärken wird. So soll Putin künftig auch eine Richtlinienkompetenz innerhalb der Regierung erhalten. Bisher liegen Regierungsleitung und die Koordination der Minister beim Ministerpräsidenten.
Das Amt hat derzeit Michail Mischustin inne. Er ist Nachfolger von Dmitri Medwedew, der nach einer im staatlichen Fernsehen inszenierten Entlassung eine wichtige Rolle im Nationalen Sicherheitsrat übernommen hat. Zuvor hatten Putin und Medwedew die Rollen von Präsident und Ministerpräsident gewechselt und so im Rahmen der bisherigen Regeln Putin weitere Präsidentschaftsjahre gesichert.
Staatsrat erhält Verfassungsrang
Der Staatsrat, ein nach dem Ende der Sowjetunion etabliertes Gremium aus hochrangigen Verwaltungsbeamten, soll Verfassungsrang erhalten. Auch das würde zur Stärkung der Exekutive und damit des Präsidenten beitragen. Zudem soll Putin im Zuge der Änderung auch mehr Kompetenzen erhalten, um künftig beispielsweise die Verfassungsrichter entlassen zu können. „Falls das eintritt, wird die Balance zwischen Judikative, Exekutive und Legislative endgültig zerstört", warnt der oppositionelle Blogger Nawalny im regelmäßigen Rhythmus in seinen Youtube-Ansprachen. „Damit wäre unsere Judikative völlig obsolet." Ein weiterer kritischer Punkt ist der angedachte Vorrang des nationalen vor dem internationalen Recht. Damit möchte Putin das russische Recht vor dem internationalen Recht stärken und damit Russland auch ein Stück weit unabhängiger machen. „Schwierig wird es, wenn die Menschenrechte davon betroffen sind", sagt Nawalny, der aufgrund seiner politischen Haltung schon mehrmals inhaftiert worden ist. „Mit diesem Beschluss werden wir einfach von der Welt gänzlich abgeschnitten. Wer soll da einem noch zur Hilfe kommen?"
Die geplanten Machtverschiebungen innerhalb der staatlichen Ebenen mögen den meisten Russen entweder weniger nachvollziehbar und verständlich oder auch egal sein. Es dürfte kaum jemand geben, der durch etwa 900 Änderungsvarianten und schließlich 400 Anträge durchgestiegen ist.
Dafür soll es andere Verfassungsänderungen geben, die populistisch anmuten, wohl auch, um die Zustimmung für das Werk abzusichern. So soll neben der bereits erwähnten finanziellen Unterstützung der Rentner auch das Familien- bild wieder aufpoliert werden. Explizit wird die Ehe zwischen Mann und Frau hervorgehoben als Gegenentwurf gegen der homosexuellen Propaganda des Westens. Dafür sollen die Kinder, die als „oberste Priorität" des Staates bezeichnet werden, künftig auch im Sinne des Patriotismus erzogen werden. Damit wird die Einwirkung des Staates auf die Erziehung der Kinder in der Verfassung festgehalten. „Für die Europäer wäre ein solcher Eingriff in die eigenen Rechte undenkbar", so Nawalny. „Und was machen wir? Wir gehen Schritt für Schritt zur Sowjetunion zurück." Sein Fazit fällt vernichtend aus. „Mit dieser neuen Verfassung verlieren wir die letzte Hoffnung auf eine mögliche Liberalisierung und die damit erhoffte Öffnung des Landes."
Eine Werbekampagne für diese Änderungen soll 35 Millionen Rubel gekostet haben, umgerechnet etwa 500.000 Euro. Eine vergleichsweise bescheidene Summe, die aber angesichts des Zustands der Opposition, der medialen Situation und den coronabedingten Verboten von Versammlungen durchaus auszureichen scheint.