Was die Kanzlerin für eine europäische Außenpolitik tun kann
Am 1. Juli übernimmt Deutschland die EU-Ratspräsidentschaft. Auf Bundeskanzlerin Angela Merkel wartet eine Herkulesaufgabe. Sie muss Europa vor dem wirtschaftlichen Absturz, der sozialen Spaltung und der politischen Bedeutungslosigkeit bewahren. Gut möglich, dass es Merkel gelingt, durch kluge Moderation widerstreitender Interessen die ersten beiden Punkte zu lösen.
In Corona-Zeiten sind Dinge machbar, die früher als tabu galten. Der Wiederaufbaufonds über 750 Milliarden Euro, den die EU-Kommission vorgeschlagen hat, wäre noch vor einem halben Jahr als Brüsseler Luftnummer verpufft. Jetzt wird ernsthaft verhandelt, um den Ländern zu helfen, die durch die Pandemie am schlimmsten erwischt wurden. In der Not wird dem Projekt Europa neues Leben eingehaucht.
Aber trifft dies auch auf das politische Europa zu? Diesen Beweis müssen die Kanzlerin, EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen sowie die Staats- und Regierungschef der Gemeinschaft erst noch antreten. An Appellen fehlt es nicht. Der französische Präsident Emmanuel Macron mahnt seit seiner Wahl im Mai 2017 zur strategischen Autonomie Europas. Der Kontinent solle sich zum weltpolitischen Akteur zwischen Amerika und China aufbauen, fordert er. Eine Vision, die umso verführerischer erscheint, als US-Präsident Donald Trump wenige Monate vor der Wahl reihenweise Porzellan zerschlägt.
Ja, es stimmt: Die EU muss geschlossener auftreten, eigene Interessen in der Welt definieren und eine Macht-Projektion entwickeln – politisch wie ökonomisch. Sie muss mehr und koordinierter in die eigene Verteidigung investieren. Ein erster praktischer Schritt wäre, endlich das Mehrheitsprinzip bei außenpolitischen Entscheidungen einzuführen. Es ist der Wesenskern der Demokratie, der auch für den zwischenstaatlichen Bereich in der Gemeinschaft angewandt werden sollte.
Aber es wäre kurzsichtig, die Vereinigten Staaten mit Trump gleichzusetzen. Bei allen Unterschieden: Europa steht den USA mit Blick auf Wirtschaft, Demokratie, Presse- und Meinungsfreiheit näher als Russland oder China. Auch der große Spalter Trump konnte die Institutionen seines Landes nicht ernsthaft beschädigen. Das Oberste Gericht fährt dem Präsidenten in die Parade, auch wenn dieser eine Mehrheit konservativer Richter ins Amt hievte. Liberale Medien wie „New York Times" und „Washington Post" schauen dem Egomanen im Weißen Haus auf die Finger und üben ihre Kontrollfunktion aus. Viele Bundesstaaten sind wirtschaftlich eng mit Europa verbunden und verfolgen eine nachhaltige Klimapolitik.
Brüssel ist kein Appendix von Washington. Die Gemeinschaft steht wirtschaftlich im Wettbewerb mit den USA, verfügt jedoch über eine ähnliche politische Kultur. Selbstbewusstsein und Kritik ja, aber kein billiges Amerika-Bashing – dem Trump-Gewitter zum Trotz. Es gehört zur Aufgabe der Kanzlerin, für eine derart differenzierte Tonlage zu sorgen.
Auch mit Blick auf China sollte Merkel die richtige Balance anstreben. Die Volksrepublik verfolgt ohne Zweifel eine muskulösere Außenpolitik als noch vor zehn Jahren. Auf dem Parteitag 2017 rief Staatschef Xi Jinping eine „neue Ära" aus, in der Peking „ins Zentrum der Weltbühne" rücken werde.
Der rabiatere Kurs Chinas lässt sich an verschiedenen Stellen beobachten. Das neue Sicherheitsgesetz für die ehemalige britische Kronkolonie Hongkong zeigt, dass Peking den bis 2047 garantierten Grundsatz „ein Land – zwei Systeme" nicht mehr ernst nimmt. Das Gesetz soll Chinas Staatssicherheit erstmals erlauben, auf Hongkonger Territorium zu operieren. Im Südchinesischen Meer häufen sich Zwischenfälle. Innerhalb kurzer Zeit hat Peking Inseln offiziell in chinesische Verwaltungsbezirke eingemeindet.
Mit Blick auf diese Vorkommnisse müssen sowohl die EU als auch die deutsche Ratspräsidentschaft Klartext reden. In wirtschaftlicher Hinsicht gilt es, auf fairen Wettbewerb zu dringen. China hat zu lange seinen Markt für ausländische Firmen abgeschottet: Eine Vielzahl von bürokratischen Regeln hat Unternehmen aus Übersee gegenüber einheimischen Betrieben benachteiligt. Peking muss auf den Grundsatz Quidproquo verpflichtet werden, Leistung und Gegenleistung. Offene Sprache ohne Polemik, klare Ziele und Bestimmtheit: Das sind die Koordinaten für eine europäische China-Politik.