In Rotterdam leben Kühe auf dem Wasser, Burger kommen von der Insektenfarm und das Leder vom Obstfrachter. Die Betriebe profitieren voneinander – denn Rotterdam will bis 2050 müllfrei werden.
Der Gründer ist schon weg. Vor fünf Jahren entdeckte Siemen Cox das leer stehende Tropicana-Spaßbad in bester Lage am Ufer der Neuen Maas, einem Flussarm in Rotterdam. Er suchte Räume für seine Idee: Start-up-Unternehmen, die ein Netzwerk der Kreislaufwirtschaft aufbauen. Der Abfall des einen wird zum Rohstoff des anderen. Blue Economy, die blaue Wirtschaft, heißt das Prinzip nach dem Cradle-to-cradle-Modell des deutschen Wissenschaftlers Michael Braungart.
Cox hatte nach der Finanzkrise keine Lust mehr, als Finanzberater Kunden Geldanlagen aufzuschwatzen. Er wollte etwas Sinnvolleres tun. Mit einem Geschäftspartner begann er, im feuchten Keller des ehemaligen Tropicana essbare Pilze auf Kaffeesatz anzubauen. Den holte sich Cox bei den umliegenden Cafés und Restaurants. Die waren dankbar, ihren Biomüll auf diese Weise loszuwerden und der Gründer hatte den richtigen Nährboden für seine Pilze. Die Abwärme der Plantage nutzt ein anderes Unternehmen, um damit seine Spirolina-Algenzucht zu heizen.
Cox und seine Partner fanden einen Investor, der das heruntergekommene einstige Schwimmbad 2015 für 1,7 Millionen Euro kaufte, um es den Gründern zu vermieten. Blue City, die Blaue Stadt, nennen diese ihr neues Domizil.
Vorreiter der Kreislaufwirtschaft
Den Umbau übernahmen die Superuse-Studios, eine Mischung aus Architekturbüro und Bauunternehmen, das inzwischen auch in die Blue City gezogen ist. Überall in den Niederlanden dokumentieren und sammeln sie Baumaterial aus Abbruchgebäuden, um es an neue Bauherren zu vermitteln. Die Holzfenster der hellen Büros stammen aus einem Abrisshaus, die Tische in den Besprechungsräumen bauten sie aus Pfosten, an denen früher Schiffe festgemacht wurden. 90 Prozent der Blue-City-Einrichtung entstand aus wiederverwertetem Material. Inzwischen arbeiten in der Blue City auf 12.000 Quadratmetern 30 junge Unternehmen an der Zukunft der Wirtschaft.
Siemen Cox’ Unternehmen Rotterschwamm hat die Blue City wieder verlassen. Unternehmen, die wirtschaftlich auf eigenen Beinen stehen, ziehen aus, um neuen Gründern Platz zu machen.
Zum Beispiel für Sander Peltenburg. In einer Fritteuse der Küche unterm Dach brutzeln kleine Bällchen, die wie Mini-Frikadellen aussehen. Peltenburg, ein gut gelaunter Endzwanziger, kippt die fertigen Kugeln auf einen Teller. Die cremige Masse schmeckt leicht nussig, keine Spur vom etwas ranzigen Fettgeschmack, den Fritteusen normalerweise auf Pommes und anderen Produkten hinterlassen.
Peltenburg und sein Geschäftspartner fertigen die Buletten ebenso wie Burger und andere Lebensmittel aus Insekten. „Wir verwenden vor allem Grillen und Heuschrecken", erzählt der Gründer. „Die kommen sympathischer rüber als zum Beispiel Würmer. Grillen erinnern die Menschen an Sommernächte in Südfrankreich." Mit seinem Unternehmen „De Krekerij" will Peltenburg helfen, die Landwirtschaft nachhaltiger, klima- und umweltfreundlicher zu gestalten.
45 Prozent des Obstes weltweit wird vernichtet
Doch Lebensmittel aus Insekten hätten in Europa, anders als in einigen afrikanischen Ländern oder Mexiko, „ein Imageproblem". Um die Leute daran zu gewöhnen, verkauft „De Krekerij" Insekten-Würstchen, -Burger und -Frikadellen an Restaurants und Caterer, die gern Ausgefallenes auf die Speisekarte setzen. Die Umsatzzahlen steigen langsam. Sechs Mitarbeiter beschäftigt Peltenburg inzwischen.
Langfristig seien Insekten billiger als Rind, Huhn oder Schwein, sagt er. Noch allerdings stecke die Produktion in ihren Anfängen, das heißt: geringe Mengen, hohe Stück- und Entwicklungskosten. „Das meiste ist Handarbeit. Wir machen dabei noch viele Fehler, aus denen wir lernen", erzählt der Firmengründer. Milchviehbetrieben, die wegen der niedrigen Milchpreise in Not geraten sind, bietet er ein Umstellungsprogramm an. Rund 200.000 Euro müsse man für den Umbau rechnen. Ein Betrieb im Rotterdamer Umland sei diesen Weg schon mit ihm gegangen. Weitere sollen folgen.
Auch Hugo de Boon will es mit einer mächtigen Konkurrenz aufnehmen. Sein Start-up „Fruitleather", Obstleder, produziert Leder aus Obstabfällen. Über den Rotterdamer Hafen kommen große Mengen an tropischen Früchten nach Europa. Teile der Ladung müssen die Spediteure vernichten, weil sie unterwegs schlecht geworden ist. „Wir haben herausgefunden, dass 45 Prozent des weltweit angebauten Obstes weggeschmissen wird. Schon im Ursprungsland sind es 30 Prozent, die den hohen optischen Anforderungen des europäischen Marktes nicht genügen." Auf dem Transport seien es dann noch mal zehn Prozent der Erntemenge und im Handel sowie beim Verbraucher weitere fünf.
Ursprünglich wollten Hugo de Boon und sein Kollege Siebdrucktinte aus weggeworfenen Früchten herstellen. Zufällig hatten sie die Masse dafür auf dem Fensterbrett vergessen. Dort war sie zu einer lederähnlichen Substanz getrocknet. So kamen sie auf die Idee, Leder für Taschen, Schuhe und Sitzbezüge daraus zu machen. Dazu schreddern sie die nicht mehr essbaren Früchte und streichen die Paste zum Trocknen auf Glasplatten. Eine Partnerfirma färbt die Substanz und beschichtet sie mit wasserabweisendem Material. Details will er nicht verraten. Die Idee sei sein wichtigstes Kapital. „Nebenan haben wir eine Brauerei", erzählt der 26-jährige Gründer. „Die will aus unserem einzigen Abfall, dem Fruchtsaft, jetzt Bier brauen."
Dem Klimawandel entgegenwirken
Kreislaufwirtschaft par excellence. Das ist auch seitens der Verwaltung gewollt. Die Stadt Rotterdam soll bis 2050 abfallfrei werden. „Wir helfen den neuen, nachhaltig wirtschaftenden Unternehmen zum Beispiel bei der Suche nach Investoren", verspricht Joost van Maaren, einer von 25 Mitarbeitern der Stadt für den Aufbau der Kreislaufwirtschaft. Ihre Müllcontainer lässt Rotterdam inzwischen komplett aus Recyclingmaterial so bauen, dass man defekte Einzelteile problemlos austauschen kann. Ihre Recyclinghöfe hat sie in „Goldminen" umbenannt, Müllautos goldfarben lackiert. „Damit sagen wir den Leuten, dass wir wertvolle Rohstoffe einsammeln."
Rotterdam hat sich dem Netzwerk Resilient Cities angeschlossen: „resiliente Städte", die dem Klimawandel entgegenwirken wollen und sich auf die Folgen der Erderwärmung vorbereiten. Die Stadt liegt unter dem Meeresspiegel. Die insgesamt 18 Quadratkilometer Flachdächer sollen nach und nach begrünt werden, damit sie kühlen und Regenwasser speichern. Der 1,3 Kilometer lange Plattenbau Peperklip, mit 550 Wohnungen größter Sozialwohnungsbau der Niederlande, bekommt derzeit ein grünes Dach. Auf einem der Hochhäuser in der Innenstadt bauen Gärtner Gemüse und essbare Blumen an, die sie an Restaurants in der Stadt verkaufen. Das Café auf dem Dach serviert frische Speisen aus der Ernte des Dakakkers (Dachacker).
Ein 9.000-Liter-Tank, der direkt mit einem Wettersatelliten verbunden ist, sammelt Regenwasser. Kommt eine Sturzregenwarnung, gibt der volle Tank automatisch überschüssiges Wasser dosiert in die Kanalisation ab, um Platz für neue Regenmassen zu schaffen. So will man Überschwemmungen vorbeugen. Das betonierte Basketballfeld einer nahen Schule dient bei Starkregen ebenfalls als Wasserspeicher.
Der Rotterdamer Strom soll aus erneuerbaren Energiequellen gewonnen werden, aus Sonne, Wind – oder aus dem Boden. Marjolein Helder hat mit einigen Kollegen eine Batterie entwickelt, die aus Elektronen in der Erde Elektrizität gewinnt. „Pflanzen produzieren Biomasse", erklärt die Biotechnologin etwas vage. Wenn Bakterien dieses organische Material im Boden zersetzen, werden Elektronen frei, „die unsere Bio-Batterien für die Stromproduktion nutzen".
Genaueres will die Unternehmensgründerin nicht verraten. Geht man über den Holzsteg in einem Park am Stadtrand von Rotterdam, fangen die LED-Lämpchen am Wegesrand tatsächlich an zu funzeln. Es sieht aus, als wate man durch ein Meer aus Glühwürmchen. „Magisch", schwärmt Park-Designerin Ermi van Oers.
Strom aus dem Erdreich
Nun wollen die beiden Gründerinnen ihr Living Light an Städte, Gemeinden und private Gartenbesitzer verkaufen. Vor allem da, wo es keinen Stromanschluss gibt, könnte die Rechnung aufgehen.
Licht aus dem Boden – für Rotterdam ist keine Idee zu verrückt. Kein Wunder dass hier in einem stillgelegten Hafenbecken Kühe leben. 34 Maas-Rhein-Ijssel-Rinder mümmeln in einem schwimmenden Stall an großen Haufen frischen Heus. Die Idee zu Europas erster schwimmender Milchfarm kam Peter Wingerden in New York. Dort erlebte er 2012, wie Teile Manhattans unter Wasser standen. Die Supermärkte waren schnell leer gekauft, weil die Lkw der Lieferanten nicht mehr auf die Insel fahren konnten. Wingerden erkannte, dass man Lebensmittel am besten dort produziert, wo die Verbraucher leben – also in den Städten. So spart man Transportwege und schont das Klima. Und Platz haben Städte wie Rotterdam eben auf dem Wasser.
Der Ingenieur begann, einen geschlossenen Kreislauf zu planen. Unter dem Stall sollte auf einem Substrat das Futter für die Kühe wachsen. Den Mist der Rinder wollte er auf einer weiteren Ebene der schwimmenden Farm zu Dünger für die künstliche Wiese verarbeiten.
Doch es stellte sich heraus, dass die Fläche unter dem 27 mal 27 Meter großen Stall nicht reicht, um genug Futter anzubauen. Deshalb fressen die Kühe jetzt Kartoffelschalen aus einer nahen Pommes-Fabrik, Abfälle einer benachbarten Brauerei und das Gras eines Naturschutzgebiets am Stadtrand. Ein Roboter sammelt den Mist im Stall und leitet ihn zu einem Seperator, der ihn in den Trocken- und den Flüssiganteil trennt.
Das Trockene geht als Dünger in Rotterdamer Parks und Gärten. Die Milch verarbeiten Peter Wingerden und seine Frau Minke direkt auf ihrem schwimmenden Hof zu Joghurt, Milch und Quark. Freitags und samstags verkaufen sie ihre Produkte vor Ort an die Endkunden. Um die frische, cremige vollfette Milch reißen sich die Rotterdamer Baristas. „Perfekt" sei sie für den Cappuccino, schwärmt Minke van Wingerden, die vorher im Marketing der Lebensmittelindustrie gearbeitet hat.
Ihren Kühen haben die beiden Wasserbauern besonders bequeme Liege-Matratzen anfertigen lassen. Die Uni Wageningen habe ihnen bescheinigt, dass sie die Tiere besonders artgerecht behandelten. Sie sehen zufrieden aus. Die meisten Rotterdamer Unternehmensgründer auch. Sie haben hier an der Neuen Maas ihr Biotop gefunden.