Manche Yoga-Positionen schrecken viele vom Üben ab. Die Vorbeuge ist sehr intensiv, gilt aber als Jungbrunnen und stärkt das Immunsystem. Sie dehnt von den Fersen bis zum Kopf die gesamte Körperrückseite. Außerdem regt sie zur inneren Ruhe und zum Rückzug an.
Ich bin zu unbeweglich, ich kann ja noch nicht mal meine Zehen berühren" – die mit Abstand beliebteste Ausrede, nicht mit Yoga zu beginnen. Anhand keiner anderen Übungskategorie wie den Vorbeugen wird so schnell über die Biegsamkeit des eigenen Körpers geurteilt. Doch was, wenn es gar nicht darum geht, mit den Fingern die Füße zu berühren?
Ob Yoga wirkt oder nicht, hängt auch damit zusammen, ob Sie für Ihren Körper passende Übungen finden. Vorbeugen sind herausfordernde Haltungen, die eine große Portion Geduld und Demut erfordern. Doch auch für schwierigere Übungen gibt es eine Vielzahl an Varianten, um es dem Körper bequemer zu machen. Und selbst wenn Sie sich nur einen halben Zentimeter nach vorne verneigen, kann das der Anfang einer echten Veränderung sein.
So unspektakulär dann eine Vorbeuge vielleicht auch aussehen mag, so tief ist doch die Wirkung. Es heißt, Vorbeugen öffnen das Herz nach innen. Sie ziehen uns in die innere Welt mit ihrer ganz eigenen Mystik und Dynamik. Der Körper faltet sich quasi zusammen, und wir können eine tiefe Selbstbetrachtung vornehmen.
Je nachdem, wie wir uns gerade fühlen und wo wir im Leben stehen, kann das allerdings wirklich hart sein. Die Realität in den Yogastudios schaut in der Regel so aus: frustrierte Gesichter, leidvolles Stöhnen, ungeduldiges Nachjustieren und schmerzhaft ziehende Beinrückseiten. Ja, der Weg ist nicht immer leicht.
Dehnbarkeit alleine bringt nichts. Es braucht genauso Kraft. Übermäßig gedehnte Beinrückseiten können sogar Rückenschmerzen auslösen, weil in der Folge die Hüftbeuger verkürzen und das Becken zu stark nach vorne kippt. Es braucht eine gesunde Mischung aus Dehnbarkeit und Kraft. Dennoch gelten die berühmten „Hamstrings", die Beinrückseiten, für viele Yoga-Übende als erstrebenswertes Ideal. Daran sieht man auch, wie schnell und unbemerkt die Ego-Falle zuschnappen kann. Weit verbreitet in Yoga-Kreisen sind sogar Entzündungen an den Sitzhöckern – durch Überdehnung.
Um das Verletzungsrisiko zu minimieren, brauchen Vorbeugen ein achtsames Üben innerhalb der körpereigenen Grenzen. Eine ganze Kette von Muskeln dürfen sich entspannen, von der Sehnenplatte der Fußsohle über die Waden, hintere Oberschenkel- und Gesäßmuskultur, weiter über die Lendenwirbelsäule bis zu den großen Rückenstreckern. Ja, sogar die Augenbrauen sind Teil dieses sogenannten dorsalen Faszienzugs. Es braucht Geduld, bis sich die harte Körperrückseite allmählich entspannt. Diese Seite ist unsere starke und gleichzeitig verwundbare Seite. So halten wir anderen den Rücken frei, wenn wir sie beschützen möchten. In einer Vorbeuge fallen wir quasi ins Ungewisse. Denn unsere Rückseite sehen wir mit den eigenen Augen nur schwer, sie liegt hinter uns.
Auf einer subtilen Ebene beschäftigen sich Vorbeugen daher mit der Vergangenheit, mit dem berühmten alten Ballast, den man nur allzu gerne loslassen würde. Aber wie? Egal ob es um einen Job, eine Wohnung, eine Freundin oder Partner geht, um eine schmerzhafte Erfahrung oder ein nicht mehr dienliches Gedankenmuster wie „Ich kann das nicht" – Loslassen ist eine Kunst. Es ist vor allem deshalb eine Herausforderung, weil es ein passiver Prozess ist, der nicht willentlich beeinflusst werden kann. Das Motto „Wenn ich mich nur anstrenge, schaffe ich es, loszulassen" funktioniert hier nicht.
Im Gegenteil: Loslassen bedeutet erstmal zu akzeptieren, etwa den intensiven Dehnungsschmerz. Diese radikale Akzeptanz kommt einer Erlaubnis gleich, man gestattet dem unangenehmen Gefühl oder der negativen Erfahrung ein Daseinsrecht. Das unterscheidet Loslassen von Verdrängen. Dahinter steht die Annahme, dass alles, wirklich alles, für irgendetwas gut ist und wir daraus lernen. So schützt uns ein Dehnungsreiz vor Verletzungen, die muskuläre Anspannung ist ein Schutzmechanismus, der verhindert, dass wir zu tief in eine Position hineingehen. Es braucht eine Weile, bis das Gehirn signalisiert, dass keine Gefahr droht, und der Muskeltonus gibt etwas nach. Der Zeitaspekt ist die zweite wesentliche Dimension. Geduld ist eine Tugend.
Erst wenn wir uns zutrauen, diesen „Schmerz" auszuhalten, sei er körperlicher oder auch emotionaler Art, können Vorbeugen wirklich ihre wohltuende Wirkung entfalten. Das Loslassen geschieht dann ganz beiläufig. Wir können unseren Blick achtsam und wertfrei nach innen richten. Was uns dort erwartet? Nun, das ist eine sehr individuelle Erfahrung und eine äußert private Angelegenheit.
Ob ein heftiger Dehnungsreiz oder eine größere Lebenskrise, Fakt ist: Es geht wieder vorbei. Aus der Perspektive des Yoga sind beide Erfahrungen eine Einladung, hin zu spüren und sich selbst zu erforschen. Aus der Sicht von Max Frisch: „Krise kann ein produktiver Zustand sein. Man muss ihr nur den Beigeschmack der Katastrophe nehmen." Liegt doch ziemlich nah zusammen. Verbeugen und verneigen wir uns zum Abschluss vor unserer menschlichen Fähigkeit, uns selbst zu beobachten, zu fühlen und zu erkennen, dass wir selbst entscheiden können, wie viel Drama wir wollen.