Die Tour de France soll im Spätsommer stattfinden. Die abgeschwächte Corona-Gefahr gibt Anlass für Hoffnung, doch noch gibt es reichlich Probleme bei der Organisation.
Der Radsport hat viel investiert in den Anti-Doping-Kampf, das geben selbst seine größten Kritiker zu. Dass in den vergangenen sieben Jahren während der Tour de France kaum ein Dopingfall publik geworden ist, heißt aber nicht, dass das Peloton nun ausschließlich sauber unterwegs ist. Dazu passt folgende Meldung: Die zuständige Organisation CADF will aufbewahrte Proben aus den Jahren 2016 und 2017 neu untersuchen und den Fokus auf eine damals noch nicht nachweisbare Substanz legen, die unter den Radfahrern benutzt worden sein soll.
Doping ist und bleibt ein Problem im Radsport
Doping ist und bleibt ein Problem im Radsport, doch aktuell gibt es drängendere Fragen. Die diesjährige Tour de France, die am 27. Juni mit dem Grand Départ in Nizza hätte beginnen sollen, musste wegen der Corona-Pandemie um zwei Monate verschoben werden. Der Startschuss soll nun am 29. August erfolgen, das Finale in Paris am 20. September. Er sehe „Licht am Ende des Tunnels“, sagte der Vorjahres-Vierte Emanuel Buchmann, und auch der viermalige Zeitfahr-Weltmeister Tony Martin blickt optimistisch voraus: „Mittlerweile sind wir ja auf der Überholspur, was die sinkenden Neuinfektionen, die ganze Datenlage und die Lockerungen angeht. Ich sehe das alles positiv.“
Dennoch steht die Planung auf wackligen Füßen. Ein Problem von vielen: In Frankreich sind bis mindestens September keine Veranstaltungen mit mehr als 5.000 Teilnehmern erlaubt. Eine zeitliche Ausdehnung dieser Deckelung galt bei Redaktionsschluss dieser Ausgabe als durchaus möglich, auch wenn sich die Corona-Situation in Frankreich ähnlich entspannt hat wie in Deutschland. Aber Großveranstaltungen gelten als sogenannte Superspreader, die Empfehlung der Virologen lautet: möglichst vermeiden! Die Tour kann für sich argumentativ ins Feld führen, dass die Rennen an der frischen Luft stattfinden, wo eine Übertragung des Virus deutlich erschwert wird. Doch halten sich die Tausenden Fans am Straßenrand an die Abstandsregel? Vor allem, wenn es in den engen Passagen am Berg wild zugeht?
Und es geht nicht nur um die Fans. Auch das Teilnehmer-, Betreuer- und Reporterfeld sowie die enorme Organisation bewegt Massen an Menschen. Frankreichs Sportministerin Roxana Maracineanu hatte deshalb schon früh eine „Geistertour“ ins Spiel gebracht – doch darauf reagierte Tourchef Christian Prudhomme zunächst mit einer klaren Ansage: „Die Tour de France wird nicht hinter verschlossenen Türen stattfinden.“ Zumindest aber der Start in Nizza und die zwei folgenden Etappen werden von der Regulierung betroffen sein, sofern es keine Sondergenehmigung für die Große Schleife gibt. Eine Lösung, die bereits bei der Rundfahrt Paris-Nizza im März gegriffen hat, wäre der Ausschluss der Zuschauer im Start- und Zielbereich. An der Strecke könnten die Tour-Organisatoren mithilfe der Polizei die Anzahl und das Verhalten der Fans regulieren.
Eine Absage der 107. Ausgabe kam für Prudhomme erst recht nicht infrage, allein schon wegen der Außenwirkung: „Findet sie nicht statt, bedeutet es, dass das Land in einer katastrophalen Situation ist.“ Die Tour ist ein Kulturgut in Frankreich, eine feste Bezugsgröße und ganzer Stolz einer radsportverrückten Nation. An der Tour wird nicht gerüttelt, auch nicht in Krisenzeiten. Deshalb war eine Verschiebung in den Herbst ebenfalls keine Option für Prudhomme: „Ich möchte, dass die Tour im Sommer stattfindet. Und zwar nicht nur im Interesse der Tour.“
Der Chef weiß natürlich, dass schon der bisherige Verzug von zwei Monaten ein Terminchaos im professionellen Radsport nach sich zieht. Im Oktober, wenn die Tour beendet ist, ballt es sich besonders. Der Weltverband UCI will mit aller Macht seinen Kalender durchprügeln, weil ansonsten ein riesengroßes finanzielles Loch droht. Auf die Teamchefs wartet eine knifflige Aufgabe, welche Athleten sie zu welchen Rennen schicken. Wer zum Beispiel den Giro d’Italia im Oktober fährt, kann nicht bei der teilweise zeitgleich stattfindenden Vuelta in Spanien an den Start gehen. Während des Giros sind zudem Lüttich–Bastogne–Lüttich (4. Oktober), die Flandern-Rundfahrt (14. Oktober) und Paris–Roubaix (25. Oktober) angesetzt – gleich drei Radsport-Klassiker. Und wer tritt schon bei der Weltmeisterschaft in der Schweiz in den Bergen rund um Martigny an, wenn die Tour gerade erst beendet ist?
Stress und Verletzungen sind vorprogrammiert, und dennoch überwiegt im Fahrerfeld „große Erleichterung“, wie Frankreichs Topfahrer Julian Alaphilippe es ausdrückt, das Programm in diesem Jahr noch halbwegs herunterspulen zu können. „Wir haben jetzt einige echte Ziele, Rennen, von denen wir wissen, dass sie im August, September und Oktober stattfinden werden“, sagte Alaphilippe. „Das motiviert uns noch mehr.“
„Wir kommen mit einem blauen Auge davon“
Für nationale Rennen bleiben angesichts des vollbepackten Kalenders kaum Termine. Die UCI hielt den Verbänden zwar das Wochenende am 22. und 23. August für ihre nationalen Meisterschaften frei. Für Deutschland kommt das aber zu früh, weil hierzulande genau wie in Belgien sportliche Großveranstaltungen bis zum 31. August untersagt sind.
Doch was nach der Corona-Krise wirklich zählt, ist vor allem die Tour. Sollte sie stattfinden, sagt Teamchef Ralph Denk vom deutschen Rennstall Bora-hansgrohe, „kommen wir mit einem blauen Auge davon“. Die Große Schleife war schon immer der wichtigste Wettbewerb des Jahres, doch in diesen wirtschaftlich schwierigen Zeiten ist sie es erst recht. „Nicht nur für uns, auch für unsere Sponsoren“, sagt Denk. „Wenn das stattfindet, kann man über alles andere großzügig hinwegschauen.“
Das gilt natürlich auch für Emanuel Buchmann, den deutschen Hoffnungsträger. Der 27-Jährige hat in seiner Wahlheimat im österreichischen Vorarlberg auch in der akuten Corona-Zeit hart an seiner Form gearbeitet. In Rahmen der „Everest Challenge“ kletterte er außerdem auf dem Heimlerberg im Ötztal mit dem Rad 8.848 Meter, also genau die Höhe des Mount Everest. „Das war eine der härtesten Sachen, die ich je gemacht habe. Ich hätte nicht gedacht, dass es am Ende so schmerzen würde“, sagte Buchmann hinterher. Er saß insgesamt sieben Stunden und 28 Minuten im Sattel und verbrauchte dabei 6.870 Kalorien.
Diese Ausdauer und Kletter-Qualitäten muss er auch während der Tour zeigen. Buchmann hat sich diesmal den Sprung aufs Podest vorgenommen – und sogar ein bisschen mehr. „Wenn das Podium das Ziel ist, dann ist der Sieg auch nicht mehr weit weg“, sagt er. Zum letzten Mal beendete ein deutscher Fahrer 1997 die Tour im Gelben Trikot. Doch was Jan Ullrichs Gesamtsieg in den dopingverseuchten 90er-Jahren wert ist, zeigen die späteren Enthüllungen. Buchmann will die Schatten der Vergangenheit ablegen, bei der Tour wird er sich Dopingtests unterziehen müssen – aber nicht nur diesen. Auch zahlreiche Corona-Tests werden in diesem Jahr durchgeführt, um die strengen Hygienestandards einzuhalten. Laut niederländischen Medien bestreiten jedoch die Ärzte des Rennstalls Lotto Soudal und Circus-Wanty Gobert die Praktikabilität täglicher Tests. Der logistische Aufwand mit mobilen Laboren und die finanzielle Belastung seien enorm. Eine Untersuchung kostet demnach pro Person 59 Euro.
„Wenn das Podium das Ziel ist, ist der Sieg auch nicht weit weg“
Unverändert bleibt das Streckenprofil, die 107. Auflage soll in Nizza starten, traditionell in Paris enden und ausschließlich auf französischem Boden ausgetragen werden. Mit acht Gebirgsetappen, von denen vier auch an einem Berg enden (Orcières–Merlette, Puy Mary, Grand Colombier, Méribel Col de la Loze), dürften wieder nur die besten Kletterer für das Gelbe Trikot infrage kommen.
Das Team Ineos hat gleich drei Favoriten in seinen Reihen: Vorjahressieger Egan Bernal, Geraint Thomas (Sieger 2018) und der einstige Dominator Chris Froome (2013, 2015 bis 2017). Der interne Konkurrenzdruck ist so groß, dass Medienberichten zufolge Froome sogar mit einem kurzfristigen Teamwechsel liebäugelt. Froome soll sauer sein, weil es seitens der sportlichen Leitung kein Signal gibt, den 35-Jährigen als klaren Kapitän ins Rennen zu schicken. Auch der um satte zwölf Jahre jüngere Bernal, im Vorjahr wie Phoenix aus der Asche auf den Rad-Thron geklettert, hat keine Lust, sich Froome unterzuordnen. Die Leistung auf den Straßen Frankreichs werde darüber entscheiden, wer der Kapitän ist, sagte der Kolumbianer. Experten gehen davon aus, dass Froome ohne die feste Kapitänsrolle gegenüber Bernal und wohl auch Thomas das Nachsehen haben wird. Ein Gesamtsieg fehlt Froome noch, um dem erlesenen Kreis der Fünffach-Sieger Jacques Anquetil, Eddy Merckx, Bernard Hinault und Miguel Indurain beizutreten. Er wolle „mehr Tour-Siege als jeder andere“ haben, sagte der Brite kürzlich. „Das ist das Traumszenario.“
Den Organisatoren dürfte es in diesem Jahr relativ egal sein, wer am Ende in Paris ganz oben auf dem Treppchen steht und sich das Gelbe Trikot ein letztes Mal überziehen darf. Hauptsache, die Tour kann überhaupt starten und zu Ende gefahren werden.