Geschichtsinteressierte, Naturfreunde, Wanderer und Radfahrer treffen in Havelberg in Sachsen-Anhalt auf ein Eldorado der Abgeschiedenheit, fernab vom Massentourismus.
Dohlen umkreisen in schwindelnder Höhe den Backsteinturm. Für einen kurzen Augenblick fühlt man sich an den düsteren Bibliotheksbau aus dem Film „Der Name der Rose" erinnert. Wucht beeindruckt, schüchtert ein. So imponiert der Havelberger Dom Sankt Marien vor allem durch die massige, geschlossene Front seines Turms, der mit seinen knapp 50 Metern Höhe wie ein aufgestellter rot-brauner Legostein in die Landschaft ragt. Wie klein daneben der Mensch, wie mächtig und imposant dieses Haus Gottes. Doch so sah der Dom, der von 1150 bis 1170 zunächst als romanische Basilika errichtet wurde, nicht immer aus. Es sind ständige Veränderungen eines Monuments: als 1893 der Blitz den Dachstuhl des Gotteshauses in Brand setzte, sollte der verstümmelte Bau künftig noch bedeutsamer daherkommen. Zwei seitlich hohe Türme in den Himmel! Doch daraus wurde so nichts. Grundmauern und Bauzustand ließen dies nicht zu, jahrelang wurden Varianten geplant und verworfen, bis endlich 1907 Kaiser Wilhelm entschied: Geschlossene Front statt Einzeltürme, Dachreiter, neoromanisches Portal und basta. Der deutsche Kaiser liebte ja auch ansonsten große Posen. Die Havelberger murrten und fügten sich.
Doch stolz auf ihren Dom können die Bürger der kleinen Stadt bis heute sein. Denn mit seinen drei Kreuzgangflügeln, die bis um 1300 errichtet wurden, gehört der angrenzende, unbedingt sehenswerte Klosterkomplex zu den wenigen vollständig erhaltenen Anlagen des Mittelalters in Norddeutschland. Im Innenraum des Doms sind nicht nur Glasmalereien aus dem 14. und 15 Jahrhundert zu bestaunen, sondern auch zahlreiche Skulpturen, Reliefs und romanische und gotische Elemente im Kirchenschiff. Mittelalter pur. Einmal sogar bildete der Dom die Kulisse für europäische Diplomatie. Zar Peter I. und Soldatenkönig Friedrich Wilhelm I. trafen sich 1716 in der Probstei am Dom, um ein Bündnis im Großen Nordischen Krieg zu schmieden. Bronzefiguren der Monarchen auf dem Platz vor dem Dom erinnern heute daran.
Im Gegensatz zu vielen anderen Städten steht der alles überragende Dom nicht im Zentrum Havelbergs. Im Gegenteil. Bis 1876 blieb der Dombereich ein eigenes Dorf, bevor er mit der Stadtinsel vereint wurde. Denn die eigentliche Stadt liegt auf einer fast kreisrunden, von der Havel umflossenen, Insel. Ursprünglich von den später gewaltsam vertriebenen Slawen besiedelt, konzentrierte sich hier aufblühendes Handwerk und gesellschaftliches Leben. Für den Handel war die Lage ideal. Über die Havel mit der nahen Elbe verbunden, entwickelte sich das Geschäft mit Holz, Salz und Getreide mit den Hansestädten der Ostsee und zu den Hamburger Fernhändlern. Selbst zum Lübecker Hansetag 1359 war Havelberg geladen, eine besondere Anerkennung für weltliche Geschäftstüchtigkeit. Der Dom mit seinem kleinen Dorf spielte kaum noch eine Rolle. Und als ob es eines weiteren Beweises ihres Selbstbewusstseins bedurfte, errichteten die Havelberger um 1300 ihre eigene Stadtkirche, St. Laurentius, eine gotische Hallenkirche.
Bedeutender mittelalterlicher Dom
Die Reformation beendete endgültig den sinkenden Einfluss des Domhügels. Das Bistum wurde aufgelöst, der Bischof trollte sich und die ganze Pracht fiel dem Besitz des Kurfürsten zu. Aus dieser ersten Blütezeit ist dem heutigen Besucher der Stadtinsel kaum etwas geblieben. Im Dreißigjährigen Krieg wurde viel verwüstet, und zahlreiche Brände legten ganze Wohnviertel und Häuserzeilen in Schutt und Asche. Nach jahrelanger Zerstörung begann dann allmählich die zweite Blüte. Der Neuaufbau folgte dem alten Straßenverlauf, die Größe der Wohnviertel und Plätze wurde beibehalten. Wer heute hier entlangflaniert, folgt also unverfälscht den Spuren der Vergangenheit. Zu den ältesten Häusern der Stadt gehört das Scharfrichterhaus, ein typischer Fachwerkbau aus dem 17. Jahrhundert. Die Stein- und Fischerstraße sind hier besonders sehenswert.
Obwohl fern von den Küsten gelegen, entwickelte sich unter dem Großen Kurfürst, Friedrich Wilhelm, ein bedeutender Schiffbau. Die Havelberger Werft fertigte Rümpfe seetüchtiger Schiffe, die über Havel und Elbe nach Hamburg gebracht wurden, um – dort mit Takelage versehen – in See zu stechen. Das war keine Schnapsidee, sondern Strategie: Der Kurfürst wollte im aufkommenden Welthandel mitmischen. Afrika und die Karibik waren die Ziele, Waffen, Sklaven und Zuckerrohr die Ware. Im Binnenland gelegen und maritim geprägt – das gelang nur Havelberg. Schiffer nutzten den Ort allzu gern auf halber Strecke zwischen Hamburg und Berlin, allein 52 Kneipen existierten um 1900 in der Stadt, in der 15 Dampfschiffe und 60 Frachtkrähne registriert waren. Kein Wunder, dass viele Havelberger ihr Geld als Bootsleute, Elblotsen und Steuerleute verdienten. Da kam dann schon mal ordentlich Stimmung auf an diesem Feierabendplatz. Zur Zeit des traditionellen Pferdemarktes wurde im sittenstrengen Preußen das wilde Treiben der Havelberger amtlich untersucht. Denn Zeugen berichteten, dass „allerhand Üppigkeiten mit Musik, Tantzen, Sauffen, Spielen und dergleichen" bis tief in die Nacht im Gange war, mittendrin einige Ratsmitglieder, die dafür gesorgt haben sollen, dass amtliche Nachforschungen sehr schnell wieder eingestellt wurden.
Kurfürst wollte im Welthandel mitmischen
Die beiden Weltkriege hinterließen kaum Spuren. Wirtschaftlich und militärisch war Havelberg ohne größere Bedeutung, abgelegen vom mörderischen Schlachtgeschehen. Während des Ersten Weltkrieges wurden Zehntausende feindliche Zivilisten hier interniert, unter der NS-Diktatur existierte von 1944 bis 1945 am Stadtrand ein Arbeits- und Außenlager des KZ Sachsenhausen. Nach der Befreiung wurde Havelberg die kleinste Kreisstadt der DDR, später gaben Stendal und Magdeburg den Ton an. Aber das heutige Sachsen-Anhalt wuchs nie organisch zusammen, und so gehören die Havelberger in ihrem Herzen nicht in dieses Bundesland. Immer mal wieder wird dies offen diskutiert, zumal nach der Wende elbabwärts das Amt Neuhaus im Osten sich Niedersachsen westlich des Flusses anschloss. Die Havelberger fühlen sich nicht der Altmark, sondern der brandenburgischen Prignitz verbunden. Nicht umsonst also führt das hervorragend geführte und reich ausgestattete Museum in der Domanlage den Titel Prignitz-Museum. Die Prignitz bildet den Nordwesten Brandenburgs.
Das muss den auswärtigen Besucher nicht kümmern. Wer heute Havelberg besucht, kann tief und überaus anschaulich in die Geschichte des Mittelalters eintauchen. Man erlebt eine idyllisch gelegene Kleinstadt, von der Havel umflossen, unweit der weitgehend unberührten Elblandschaft. Kultur- und Geschichtsinteressierte, Naturfreunde, Wanderer und Radfahrer treffen auf ein Eldorado der Abgeschiedenheit, fernab vom Massentourismus. Es gibt viel zu entdecken in diesem Kleinod im Nirgendwo. Neben der Stadtinsel ist der Besuch im Prignitz-Museum und im Haus der Flüsse ein unbedingtes Muss. Und es lohnt sich, dort auch über Nacht zu bleiben. Denn fernab der Lichtverschmutzung größerer Städte ist der Sternenhimmel über Havelberg so nah wie kaum irgendwo anders in unserem Land.