Laut einer neuen Studie ist die Lebensmittelverschwendung weltweit doppelt so hoch wie bislang angenommen. Je größer der Wohlstand eines Landes, desto mehr Essen landet dort auf dem Müll.
Im August 2019 hatte der Weltklimarat IPCC in einem Sonderbericht „Klimawandel und Landnutzung" dem globalen Problem Lebensmittelverschwendung eine hohe Priorität eingeräumt. Er machte dabei abermals darauf aufmerksam, dass derzeit bis zu einem Drittel der weltweit produzierten Nahrungsmittel ungenutzt auf dem Müll landet und dass allein diese Abfälle acht bis zehn Prozent der Treibhausgasemissionen verursachen. Allein durch Vermeidung dieser Verluste in der Nahrungskette könnte ein wichtiger Beitrag zum Klimaschutz geleistet werden. Der IPCC stützte seine Angaben über die Höhe der Lebensmittelverschwendung auf eine Schätzung der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) aus dem Jahr 2005, die immer noch in fast allen Veröffentlichungen zu diesem Thema übernommen wird.
Lebensmittelökonomen von der niederländischen Wageningen-Universität in Den Haag um Monika van den Bos Verma haben allerdings Anfang Februar in einer im Fachmagazin „Plus One" veröffentlichten Studie den Nachweis zu erbringen versucht, dass die globale Lebensmittelverschwendung wahrscheinlich sogar doppelt so hoch sein könnte als bislang angenommen. Wozu auch die deutschen Konsumenten einen erheblichen Teil beitragen, da die Bundesrepublik im weltweiten Ranking der größten Nahrungsmittelverschwender einen unrühmlichen neunten Platz belegt. Jeder Bundesbürger sorgt demnach dafür, dass täglich Lebensmittel im Wert von 1.415 Kilokalorien ungenutzt in der Tonne landen.
Es geht allerdings noch schlimmer, denn die Liste wird vom britischen Überseegebiet Bermuda angeführt, wo pro Person und Tag 1.580 Kilokalorien verschwendet werden. Auf den Plätzen zwei bis acht folgen die USA, die Kaimaninseln, Hongkong, Luxemburg, Norwegen, die Schweiz und die Vereinigten Arabischen Emirate. Österreich komplettiert das Top-Ten-Ranking, in dem ausnahmslos wohlhabende Regionen dieser Welt vertreten sind. Ob es in den wohlhabenden Ländern in Sachen Lebensmittelverschwendung einen Unterschied zwischen reichen und armen Haushalten gibt, wurde in der holländischen Studie nicht untersucht.
Deutschland auf Platz neun
Die niederländischen Forscher haben anhand von Daten der FAO, der Weltbank und der Weltgesundheitsorganisation WHO ermittelt, wie viele Kalorien den Menschen in den Staaten weltweit zur Verfügung stehen. Anschließend haben sie von dem errechneten Kalorienangebot den tatsächlichen Kalorienverbrauch der jeweiligen Bevölkerung abgezogen, um einen Überblick über einen etwaigen, nicht genutzten Lebensmittelüberschuss zu erhalten. Der methodische Studienansatz unterscheidet sich grundlegend von anderen Konzepten, da man eine Energiebilanz erstellte. Die Schätzungen der FAO beruhen hingegen auf Massebilanzen, die taxierten Werte der Europäischen Union oder auch Deutschlands werden gemeinhin auf Basis von Abfalldaten ermittelt. In der Bundesrepublik landen auf dieser Erhebungsbasis jährlich laut Angaben der Umweltschutzorganisation WWF über 18 Millionen Tonnen Nahrungsmittel im Müll, was fast einem Drittel des aktuellen deutschen Nahrungsmittelverbrauchs entsprechen würde und wovon laut WWF noch fast die Hälfte, nämlich rund zehn Millionen Tonnen, durchaus genusstauglich wäre. Die 2015 von der Braunschweiger Bundesforschungseinrichtung Thünen-Institut im Auftrag der Bundesregierung 2015 ermittelten 11,9 Millionen Tonnen jährlichen Essenmüll werden von renommierten hiesigen Experten als zu niedrig eingestuft.
Die FAO geht auf Basis einer Schätzung aus dem Jahr 2015 davon aus, dass weltweit rund 1,3 Milliarden Tonnen Lebensmittel pro Jahr weggeworfen werden, was umgerechnet pro Tag und Kopf rund 214 Kilokalorien entsprechen würde. Die niederländischen Forscher kamen hingegen schon für das Jahr 2005 auf 526 verschwendete Kilokalorien und errechneten für das Jahr 2011 sogar eine weltweite Lebensmittelverschwendung von 727 Kilokalorien pro Kopf und Tag. Als Grund für die gravierenden Zahlenunterschiede führen die Forscher an, dass die FAO nur das zur Verfügung stehende Nahrungsangebot und nicht das Verbraucherverhalten berücksichtige.
Besonders viel Essen wird laut den niederländischen Wissenschaftlern in Regionen vergeudet, in denen der Wohlstand im globalen Vergleich am größten ist. Die Forscher konnten einen Schwellenwert ermitteln, an dem Wohlstand in Nahrungsverschwendung umschlägt. In Ländern, in denen die Menschen die Möglichkeit haben, täglich mehr als 6,70 Dollar auszugeben, steht ihnen mehr Essen zur Verfügung, als tatsächlich verzehrt werden kann. Je wohlhabender ein Land ist und sich der Einzelne deshalb tägliche Konsumausgaben weit jenseits des Schwellenwerts leisten kann, desto stärker steigt die Lebensmittelverschwendung an. Erst bei einem Wert von etwa 25 Dollar pro Tag schwächt sich die entsprechende Verschwendungskurve ab.
Politiker würden das Problem „etwas unterschätzen"
Aus Deutschland meldeten sich zwei renommierte Experten mit relativ ausführlichen Kommentaren zu der niederländischen Studie zu Wort. Der Agrarökonom Prof. Matin Qaim von der Georg-August-Universität Göttingen findet den methodischen Ansatz hochinteressant: „Da es international wenig gute Messungen über die tatsächliche Menge weggeworfener Lebensmittel gibt, können statistische Schätzmodelle helfen, die globale Größenordnung des Problems schrittweise besser zu erfassen. Aber die Präzision der Schätzung sollte nicht überbewertet werden, weil das vorgestellte Modell viele wichtige Einflussgrößen nicht berücksichtigt." Was man aus der Studie auf jeden Fall ableiten könne, sei der direkte Zusammenhang zwischen der weggeworfenen Lebensmittelmenge und dem zur Verfügung stehenden Einkommen. Das niederländische Modell müsste laut Qaim weiterentwickelt und durch Einbeziehung weiterer Einflussgrößen wie Bildung, Nachhaltigkeitsbewusstsein oder kulturelle Unterschiede im Lebensstil ergänzt werden. Qaims Göttinger Kollege Prof. Achim Spiller hat den Einwand vorgebracht, dass die Studie den Zusammenhang zwischen Wohlstand und Lebensmittelverschwendung wahrscheinlich etwas überschätze, ebenso das Ausmaß der Lebensmittelverluste. Allerdings räumt Spiller ein, dass im Gegenzug die politisch Verantwortlichen in Deutschland das tatsächliche Problem der hiesigen Nahrungsmittelverschwendung „etwas unterschätzen". Spiller: „Zulässig ist der Ansatz des Papers aber meines Erachtens schon, auch in der von der Bundesregierung als Baseline genutzten Datenbasis sind viele Daumenschätzungen enthalten."