Eine Mauer aus Pappziegeln, echte Helikopter über den Köpfen des Publikums und gewaltige Marionetten, die von riesigen Kränen bewegt wurden: Mit „The Wall – Live in Berlin" inszenierte Roger Waters am 21. Juli 1990 die größte Musikshow, die Deutschland je gesehen hatte. Bis zu 370.000 Zuschauer waren auf dem ehemaligen Todesstreifen live dabei.
Es sollte eigentlich bloß ein Witz sein. Im Sommer 1989 erklärte Roger Waters von Pink Floyd in einem Interview in der Radiosendung „In Studio with Redbeard", dass er „The Wall" nur dann noch einmal live aufführen würde, „wenn die Berliner Mauer fällt". Auch wegen anhaltender Differenzen zwischen den Bandmitgliedern. Zu diesem Zeitpunkt konnte noch niemand ahnen, dass die Mauer nur vier Monate später tatsächlich fallen würde. Auf einmal ergab sich so die Gelegenheit, die gigantische Musikshow dort aufzuführen, wo die berüchtigtste aller Mauern stand: am ehemaligen Todesstreifen mitten in Berlin.
Die Stadt war offiziell immer noch geteilt, als sich am 21. Juli 1990 zwischen Brandenburger Tor und dem Potsdamer Platz, halb im britischen und halb im sowjetischen Sektor, die größte Show abspielte, die Deutschland je gesehen hatte. Bis zu 370.000 Zuschauer waren bei „The Wall – Live in Berlin" dabei – die genaue Zahl kennt bis heute niemand. „Verkauft hatten wir ungefähr 220.000 Karten", erinnert sich Veranstalter Peter Rieger. „Aber wir hatten, nach meiner Schätzung, 100.000 bis 150.000 Leute ohne Karten, die am Einlass teilweise noch vor den zahlenden Besuchern standen. Irgendwann haben wir kapituliert und alle eingelassen. Eine solche Masse ist nicht mehr zu kontrollieren auf so einem Feld mit einer solchen Bühne. Ich bin immer noch erleichtert, dass niemand zu Schaden kam."
Es herrschten Zustände wie beim legendären Woodstock-Festival 1969, bei dem die Veranstalter irgendwann ebenfalls vor dem Besucherandrang kapituliert hatten. Schon drei Jahre zuvor beim „Concert for Berlin" hatte man die Türen öffnen müssen, weil Leute ohne Karten gegen die Absperrungen drängten. „Damals herrschte nicht nur in Berlin die Ansicht, dass man für Konzertbesuche keine Karten mehr kaufen, sondern nur entschlossen genug auftreten müsse. Konzerte wurden noch gestürmt", so Rieger im Interview mit „Welt online".
Aber nicht nur die Zuschauerzahlen waren beindruckend. Der Aufwand für das Event war enorm. „Schwitzende Monteure basteln an einem mehr als 160 Meter breiten und etwa 20 Meter hohen Stahlgerüst, die Schaufel eines Raupenfahrzeugs reißt tiefe Narben in das grasbewachsene, hügelige Gelände, eine Dampfwalze ächzt knirschend über neu angelegte Schotterwege", schrieb der „Spiegel" damals. Fast zwei Monate dauerten die Aufbauarbeiten. Auf der größten jemals errichteten Bühne stand eine 168 Meter lange und 25 Meter hohe Mauer aus Pappziegeln, die zum Großteil schon vor der Show errichtet worden war. Der Rest wurde im ersten Teil des Konzerts gebaut, um dann beim großen Finale effektvoll wieder abgerissen zu werden.
168 Meter lang und 25 Meter hoch
Doch nicht nur das: Auf die Mauer wurden während des Konzerts mehrfach Trickfilmszenen projiziert, zudem gab es Feuersäulen und riesige Marionetten, jede rund 35 Meter hoch, die von Kränen bewegt wurden. Über den Köpfen des Publikums kreisten echte Helikopter, und zum Lied „Bring the Boys Back Home" marschierten ein Chor und eine Blaskapelle der Roten Armee über die Bühne.
Dabei ging während des Konzerts längst nicht alles glatt. In der ersten Viertelstunde fiel gleich zweimal der Strom aus und ließ die Musiker verstummen. Als die Show später auf Video und DVD veröffentlicht wurde, war davon allerdings nichts mehr zu merken: Roger Waters ließ die Lieder einfach im Studio neu einspielen oder verwendete Aufnahmen aus der Probe.
Doch auch so bereute niemand der Anwesenden sein Kommen. Wann gab es sonst schon einmal die Gelegenheit, ein solches Aufgebot an Stars live zu erleben? Zahlreiche Musikgrößen waren in der deutschen Hauptstadt vertreten und sich dabei nicht zu schade, zum Teil nur wenige Textzeilen zum Gesamtkunstwerk beizusteuern. Mit dabei waren unter anderem Bon Jovi, Bryan Adams, Sinead O’Connor, Cyndi Lauper, Joni Mitchell, Marianne Faithfull und Van Morrison. Dazu aus deutscher Sicht Ute Lemper sowie die Scorpions, die mit Motorrädern auf die Bühne fuhren.
Auch die Schauspieler Albert Finney und Tim Curry beteiligten sich. Die anderen Mitglieder von Pink Floyd außer Roger Waters waren dagegen nicht dabei –
der Streit innerhalb der Gruppe war zu diesem Zeitpunkt noch immer nicht beigelegt. Stattdessen wurde der Bandleader in Berlin von der Bleeding Heart Band begleitet. Aber „The Wall" war ohnehin Waters’ Werk. Die Texte und die Musik aller 26 Songs des legendären Doppelalbums stammten von ihm, und nur bei vier dieser 26 Songs waren überhaupt noch andere Leute beteiligt, so etwa bei „Comfortably Numb" mit dem Gitarrensolo von David Gilmour. Waters besaß auch sämtliche Rechte an „The Wall" und konnte die Aufführung somit auch ohne den Rest von Pink Floyd umsetzen.
Die Band hatte „The Wall" ursprünglich 1979 veröffentlicht; es ist neben „The Dark Side of the Moon" (1973) und „Wish You Were Here" (1975) das bekannteste Werk der britischen Rockgruppe. Es handelt sich um das meistverkaufte Doppelalbum der Geschichte. Das Werk ist bis heute ein Klassiker der Musikgeschichte und lief dereinst sogar beim DDR-Jugendradio DT64, sogar inklusive Songtexten. Allerdings mit einer kleinen Änderung: Anstatt von der „Mauer" war im Osten bei der Übersetzung des Albumtitels aus naheliegenden Gründen von der „Wand" die Rede. Ursprünglich war „The Wall" als Rockoper zum Thema Entfremdung angelegt.
Heute ein Klassiker der Musikgeschichte
Zum Inhalt: Der Protagonist, der Musiker Pink, ist ausgebrannt; bekifft sitzt er in seinem Hotelzimmer und lässt sein bisheriges Leben Revue passieren. Den sinnlosen Kriegstod des Vaters, die übertriebene Fürsorge der Mutter, die sadistischen Lehrer in der Schule. Pink zieht sich immer stärker zurück – er baut sich eine Mauer, die ihn vor der Außenwelt schützen soll. Parallelen zum Leben des ersten Sängers und Gitarristen von Pink Floyd, Syd Barrett, sowie vor allem zur Biografie von Roger Waters selbst waren dabei unverkennbar. Auch dieser war zunehmend genervt vom Musikbusiness, was 1977 darin gipfelte, dass er bei einem Konzert in Montreal einen Besucher von der Bühne aus bespuckte. Waters wünschte sich gewissermaßen eine Mauer zwischen sich und dem Publikum und setzte diese Idee mit den Live-Shows zu „The Wall" auf seine ganz eigene Weise um.
Obwohl das Album ursprünglich also nie so gedacht war, wurde es im Kalten Krieg bald zum Soundtrack der anhaltenden Eiszeit zwischen Ost und West, die in der Berliner Mauer symbolisch ihren Niederschlag gefunden hatte. Was aus Sicht von Konzertveranstalter Peter Rieger auch irgendwie passte: „Natürlich hat Pink sich seine Mauer selbst gebaut, und den DDR-Bürgern wurde sie vor die Nase gestellt. Aber auch Walter Ulbricht und Erich Honecker hatten sich eingemauert, um sich vor der Selbstzerstörung ihrer kleinen Welt zu schützen", sagte Rieger gegenüber „Welt online".
Vor der gigantischen Show im Herzen Berlins war „The Wall" weltweit nur in vier Städten aufgeführt worden: 1980/81 auf der Tournee durch Los Angeles, New York, London und Dortmund, wo das Event in der Westfalenhalle Station machte. Schon damals verglich die „Frankfurter Allgemeine Zeitung" das Spektakel ehrfürchtig mit der „Apokalypse des Johannes auf Patmos". 1982 kam auch der dazugehörige Film in die Kinos, mit Bob Geldof als Pink in der Hauptrolle.
Doch bald darauf zerstritt sich die Band. „The Wall" war das letzte Album in der klassischen, seit 1968 bestehenden Besetzung von Pink Floyd mit Waters, Richard Wright, David Gilmour und Nick Mason. Wright verließ die Gruppe anschließend beziehungsweise wurde von Waters aus der Band gedrängt; später ging auch Waters selbst, der die Band sogar auflösen wollte. Erst 2005 bei dem von Bob Geldof organisierten sogenannten Live-8-Konzert in London stand er erstmals nach 24 Jahren wieder gemeinsam mit dem Rest von Pink Floyd auf der Bühne. Mit „The Wall" tourte Waters aber weiter um die Welt und begeisterte die Massen. Doch kein Auftritt war so spektakulär wie der kurz nach dem Mauerfall in Berlin.