Der Psychiater, Neurologe, Psychologe und Psychotherapeut Borwin Bandelow ist Professor für Psychiatrie und Psychotherapie an der Universität Göttingen. Er ist Experte für Angsterkrankungen und spricht im Interview über die Ursachen krankhafter Ängste, was der Urmensch damit zu tun hat und über spontane Selbstheilung.
Herr Prof. Bandelow, wo liegt denn der Unterschied zwischen normaler und krankhafter Angst?
Wir brauchen Angst, damit wir überleben können, zum Beispiel wenn wir Auto oder Fahrrad fahren. Dann arbeitet die Angst ohne, dass wir es merken. Sonst würden wir vielleicht nicht an einer roten Ampel stehen bleiben. Von einer krankhaften Angst kann man ausgehen, wenn man die Hälfte des Tages über seine Angst nachdenkt. Wenn man anfängt, sein Leben im beruflichen, familiären oder sozialen Bereich wegen der Angst umzustellen. Oder wenn man Beruhigungsmittel oder Alkohol nimmt, um die Angst zu bekämpfen. Dann sollte man zu einem Arzt oder Psychologen gehen.
Also muss man sich wegen einer einzelnen Panikattacke nicht gleich Sorgen machen?
Alle Menschen haben irgendwann in ihrem Leben mal eine Panikattacke. Da braucht man sich keine Gedanken zu machen. Viele Ängste muss man nicht von einem Profi behandeln lassen, weil sie von selbst weggehen oder harmlos sind.
Neben den Panikattacken gibt es die sogenannte Generalisierte Angststörung. Wo ist der Unterschied?
Der Unterschied zu der Panikstörung ist, dass man zwar die gleichen Symptome hat, wie zum Beispiel Herzrasen, Zittern, Schwindel, Schwitzen, aber diese nicht attackenförmig auftreten. Bei der Generalisierten Angststörung hat man nicht so heftige Angstanfälle wie bei der Panikstörung, man wacht aber morgens schon mit den Symptomen auf, und die können den ganzen Tag anhalten. Bei der Generalisierten Angststörung hat man eher Angst vor realen Gefahren, zum Beispiel, dass den Kindern oder dem Ehepartner etwas passiert. Bei anderen Angststörungen hat man Angst vor Dingen, die nicht wirklich gefährlich sind, wie zum Beispiel Fußgängerzonen, Fahrstühlen oder Mäusen.
Was sind die Ursachen für krankhafte Ängste?
Etwa zur Hälfte Umwelteinflüsse und zur Hälfte genetische Einflüsse. Umwelteinflüsse können Erlebnisse aus der Kindheit oder dem späteren Leben sein, zum Beispiel traumatische Erlebnisse. Oder auch Beziehungsschwierigkeiten. Dadurch können Ängste ausgelöst oder verschlimmert werden. Durch die genetischen Einflüsse kann Angst vererbt werden. Das wurde bei Zwillingsstudien nachgewiesen.
Warum erkranken manche Menschen an einer Angststörung und andere nicht? Gibt es den Typ Angstpatient?
Angst ist wie alles in der Natur „normal verteilt" in der Bevölkerung, wie die Körpergröße. Es gibt sehr viele mittelängstliche Leute und wenige sehr ängstliche und wenige völlig furchtlose Menschen. Das führt dazu, dass es Menschen gibt, die sehr widerstandsfähig sind gegen Stress, und andere werden schon bei kleineren Problemen krank. Ich habe in meinem Leben, glaube ich, etwa 5.000 Angstpatienten gesehen, über vieles habe ich Statistiken angelegt. Ich meine, dass ich einen einigermaßen guten Überblick habe.
Wie ist der Unterschied zwischen Frauen und Männern?
Angsterkrankungen sind bei Frauen deutlich häufiger, zwei Drittel der Angstpatienten sind Frauen und nur ein Drittel Männer. Ich erkläre mir das so: In der Urzeit mussten Männer mutig sein und mit Tieren kämpfen, um eine Familie ernähren zu können. Die Mutigen haben dann eine Frau abbekommen, konnten sich fortpflanzen, die anderen sind ausgestorben. Frauen dagegen mussten vorsichtig sein, damit ihre Nachkommen nicht von wilden Tieren gefressen werden. Deswegen hatten die Kinder ängstlicher Frauen bessere Chancen zu überleben. Die Kombination aus mutigem Mann und ängstlicher Frau war in der Urzeit sozusagen ein Dreamteam, sie hatten den besten Überlebensvorteil. Deshalb ist die Angst um die Kinder bei Frauen etwas ganz Natürliches, aber oft auch Teil der Generalisierten Angststörung.
Wie hoch sind die Chancen, gesund zu werden?
Sehr hoch! 85 Prozent der Patienten kann man auf null Angst zurückbringen. Zehn Prozent haben weiterhin Angsterkrankungen, haben sie aber gut im Griff. Fünf Prozent kann man überhaupt nicht helfen.
Woran liegt das?
Manchmal nehmen die Patienten nicht alle wirksamen Therapien an.
Es liegt also an den Patienten …
Es liegt auch daran, dass zum Beispiel die Therapien nicht hundertprozentig sind. Und nicht jedes Medikament hilft, dann muss man eines finden, das besser hilft. Man muss die Therapie ausgefeilt und lange genug machen, bis man das richtige gefunden hat. Das gilt auch für die Psychotherapie.
Ist die Angst in der Gesellschaft größer geworden?
Das ist immer ein Grundgefühl der Menschen, aber statistisch stimmt es nicht.
Hat Corona mehr Angst erzeugt?
Nur kurzfristig. Ich nenne das die Vier-Wochen-Regel. Wenn eine neue und unbeherrschbare Gefahr auftritt, haben die Leute etwa vier Wochen lang eine übersteigerte Angst. Das hat sich am Anfang in Hamsterkäufen gezeigt. Jetzt haben die Leute zwar nach wie vor Angst, aber die Angsteinschätzung ist nun realistisch und nicht übertrieben.
Kann eine Angsterkrankung auch von alleine zurückgehen?
Ja, das ist sogar sehr häufig der Fall. Studien haben gezeigt, dass Menschen mit einer Panikstörung im Durchschnitt 37 Jahre alt sind. Das ist eine Kurve, die langsam ansteigt, bis zum Alter von 37 dann abfällt. Das heißt, dass es auch ohne Therapie eine sogenannte Spontanheilung gibt. Ich sage zum Beispiel einem 38-jährigen Patienten: Rein statisch gesehen haben Sie das Schlimmste hinter sich, es wird nur noch besser. Fast 50 Prozent der Ängste gehen völlig ohne Behandlung zurück. Also kann man es auch mal mit Abwarten oder Selbsthilfe versuchen.
Wie kann man sich selbst helfen?
Da wird viel angeboten. Sie können zum Beispiel mein Buch kaufen (lacht). Es gibt auch zunehmend Internetprogramme. Die beste Form der Selbsthilfe ist, sich der Angst zu stellen. Wenn man zum Beispiel Angst vor Hunden hat, muss man mit Hunden spazierengehen. Das ist effektiver, als über die Angst zu reden. Die Angst wird in einem Teil unseres Gehirns gemacht, der gar nicht auf die Sprache reagiert. Sondern nur auf Taten. Also: Mit Hunden spazierengehen. Dann wird das primitive Angstsystem überzeugt, dass es gar nicht so schlimm ist, mit Hunden spazierenzugehen. Es ist effektiver, als die ganze Zeit darüber zu reden, ob man eine negative Einstellung zu Hunden hat.
So arbeitet die Verhaltenstherapie. Doch es gibt auch Ängste, die nicht so greifbar sind. Da muss dann eher die Tiefenpsychologie ran, also das Reden. Oder?
Das ist ein alter Streit zwischen der Verhaltenstherapie und der Psychoanalyse beziehungsweise Tiefenpsychologie. Die psychoanalytischen Erklärungen klingen plausibel, sind aber wissenschaftlich nicht nachweisbar. Dass Ängste durch „Konflikte" in der Kindheit entstehen, hat nie einer nachgewiesen. Wie will man auch bei Patienten, die im Durchschnitt 37 Jahre alt sind, nachweisen, dass sie vor 30 Jahren einen Mutterkonflikt hatten?
Studien, die zu 50 Prozent erbliche Einflüsse gezeigt haben, stehen auch im Widerspruch zur Analyse. Das hatte schon Freud erkannt: „In manchen Fällen von Angstneurose lässt sich eine Ätiologie überhaupt nicht erkennen. Es ist bemerkenswert, dass in solchen Fällen der Nachweis einer heriditären Belastung selten auf Schwierigkeiten stößt." Bei den Wirksamkeitsstudien sieht man, dass die psychoanalytischen Behandlungen im Vergleich zur Verhaltenstherapie schlechter wirken und oft nicht besser sind als abzuwarten.
Die Verhaltenstherapie bleibt aber eher an der Oberfläche. Muss man nicht auch mal hinterfragen?
Ja, wenn die Ursache eher im Gehirn verborgen ist. Die Verhaltenstherapie musste ihre Theorien auch erweitern. Ich habe zum Beispiel noch gelernt, dass Angst nur durch schlechte Erfahrung entsteht. Aber mit einer Spinne kann man in Deutschland keine schlechte Erfahrung machen. Trotzdem haben viele hierzulande eine Spinnenphobie. Das liegt daran, dass es eine ererbte Angst vor Spinnen gibt. Man könnte ja auch in einem Land geboren werden, wo es gefährliche Spinnen gibt. Phobien entstehen nicht durch Lernen. Diese Phobie muss im Menschen schon angelegt sein. Einprogrammiert sozusagen. Alles was vor 100.000 Jahren gefährlich war, hat dazu geführt, dass die, die keine Angst hatten, ausgestorben sind. Die Furchtlosen wurden aussortiert. Wir sind also die Nachkommen der Ängstlichen von damals. Jeder Mensch wird mit einem Satz von Phobien geboren. Überall auf der Welt.