In manchen Fällen ist für Angstpatienten ein Aufenthalt in einer Klinik sinnvoll. FORUM-Autorin Anke Sademann hat sich in der psychosomatischen Abteilung der Kliniken des Theodor-Wenzel-Werks in Berlin umgesehen.
Vor dem Haupteingang des Klinikums des Theodor-Wenzel-Werks stehen zwei zierliche Frauen. Sie halten sich liebevoll umklammert. Etwas abseits sitzen drei Jugendliche auf steinigen Stufen – in lebendigem Gespräch. Die Eingangshalle ist rundum verglast. Das Licht der Mittagssonne scheint durch das Atrium. Ein Pärchen sitzt in der Wartezone. Ihr Schweigen hat etwas Beklemmendes. Ein blonder Middle Ager nähert sich dem Pförtner, der Ankommende in einem Glaskubus registriert. Sein Schritt ist energisch. Unter dem Arm klemmt ein alter Geigenkasten. „Ach, Sie warten auch?" bemerkt er ohne Blickkontakt. Ein Mann im Rollstuhl mit Tennissocken in den Adiletten beobachtet verstohlen die Hereinkommenden. Plötzlich ruft er durch die Halle: „Wo kann man Sie denn spielen hören?" „Nirgends – da bin ich eigen", antwortet der Blonde und entfernt sich eilig über die Treppe. Man fragt sich, wer ist hier wohl Patient, Begleiter oder Betreuer?
Friedliche Atmosphäre
Das Büro von Dr. Christian Thiele – Leiter der Psychosomatischen Abteilung – liegt ein paar lange, ebenso verglaste Gänge weiter. Am Bistro „Sonnenschein" vorbei und dann gleich links. Der Ruhe ausstrahlende Chefarzt sitzt in einem sachlich eingerichteten Büro – das Fenster weit geöffnet. Es riecht nach Grün. Denn die Lage der Klinik ist privilegiert. Die weißen und backsteinfarbenen Gebäude sind von einer waldähnlichen Parkanlage umsäumt. Fast labyrinthisch verzweigen sich die Wege, farbenfrohe Keramik und erdfarbene Skulpturen ruhen im Gras. Verstreute Sitzgelegenheiten laden zum Verweilen im Schatten der Bäume ein. Hell asphaltierte Wege mit türkisblauen Schildern führen zu den Häusern der Abteilungen Neurologie, Psychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatische Medizin. Innen wirkt alles licht, beruhigend homogen, klinisch, aber nicht steril. Eine Aura, die ein friedliches Aufgehoben-Sein vermittelt. „Durch die übersichtliche Größe unserer Klinik ist hier alles sehr persönlich – fast schon familiär", bemerkt der Chefarzt. Der gebürtige Berliner leitet die psychosomatische Abteilung seit 1997 – erst als Ober-, dann als Chefarzt. Etwa 600 Patienten (ab 18 Jahren) nimmt die Abteilung jährlich auf – etwa 25 Prozent der Menschen leiden an einer klassifiziert diagnostizierten Angststörung, der Frauenanteil liegt bei 80 Prozent. Dr. Thieles Lebenslauf mit Abschlüssen in Philosophie, Medizin (Internist) und psychoanalytisch basierter Psychosomatik zeigt die Komplexität seines Schaffensradius. Psychiatrie und Psychosomatik seien zwar unter einem Dach, sollten aber klar differenziert werden. Während ersteres auf der weit verbreiteten Verhaltenstherapie basiert, wird die Psychosomatik mit einem psychodynamischen Ansatz – der Lehre vom Wirken innerseelischer Kräfte – therapiert. Beides sei auf seine Weise wirksam, habe aber andere Ansätze und Fokussierungen, sagt Thiele. Psychosomatik bedeutet mit den inneren, das heißt auch unbewussten Konflikten der Patienten umzugehen, um körperliche und seelische Dimensionen zusammenzubringen: „Gerade wenn es um Angsterkrankungen geht, stehen die körperlichen Begleitreaktionen meistens im Vordergrund. Viele Patienten denken, dass sie aufgrund von Herz-KreislaufProblemen, Herzklopfen oder gar -rasen, Schwindel, Schweißausbrüchen oder Schlafstörungen etwas am Herzen haben, körperlich krank sind, dabei ist die Reihenfolge oft andersherum. Die Angst bahnt sich physisch ganz individuell ihren Weg, kann aber auch als konkreter Angstzustand wahrgenommen werden, dessen Ursprung sich der Betroffene nicht erklären kann. Unsere Aufgabe ist es, Sinn und Ursache des körperlichen Symptoms herauszufinden und es so nachhaltig wie möglich zu lindern. Das Unterbewusste ist hier das Entscheidende." Diesen nicht greifbaren Angstzustand vergleicht Dr. Thiele gerne metaphorisch mit einem Fluss, in dem Gift schwimmt. Da helfe es ja auch nicht nur, das Wasser zu klären oder einen Staudamm zu bauen. Man müsse die Quelle finden, wo das trübe Wasser heraussprudelt.
Auf die Zwischenfrage, was denn Angst genau sei, antwortet der Arzt wie aus dem Lehrbuch: „Angst ist ein affektiver Zustand, der mit dem Gefühl, bedrängt und bedroht zu sein, und mit körperlichen Begleiterscheinungen verbunden ist. Sie tritt als Grunderfahrung der menschlichen Existenz auf und begleitet mit verschiedenen Themen die menschliche Entwicklung. Als solche dient sie der Existenzsicherung. Sie kann viele Ursachen haben. Bei einer objektivierbaren Gefahr und Bedrohung handelt es sich um eine reale (realistische) Angst, zum Beispiel nicht in einen lebensgefährlichen Abgrund zu springen oder sich vom Löwen fressen zu lassen. Anders ist es bei irrationalen Ängsten wie die vor Schlangen mitten in der Stadt – eine sogenannte Verschiebung. Bei der neurotischen Angst handelt es sich um irrationale und übertriebene Angst aus neurotischen Gründen. Bei Angststörungen werden Ängste zum Leitsymptom. Sie treten in drei Formen in Erscheinung: Als Panik, Phobie wie Agoraphobie oder Soziale Phobie und Hypochondrie." Und dann fügt Dr. Thiele mit fast liebevollem Unterton hinzu, dass Angst ein großes Ur-Gefühl sei – ein instinktiv gesteuerter Selbstschutz. Vieles präge sich bereits in der frühen Kindheit aus. Es reiche schon als Säugling einmal allein ohne Bemutterung auf einer Station zu liegen, um daraus später einen regelrechten Horror vor dem Alleinsein zu entwickeln, oder gar phobisch nicht mehr alleine das Haus verlassen zu wollen. Auch ohne Erinnerungsvermögen hinterlassen derartige Erfahrungen Spuren. „Eine tiefsitzende Angst aus der Kindheit ist unterschiedlich ausgeprägt. Als Kinder wachsen, reifen und entfalten wir uns langsam – wir verlassen in kleinen Schritten die enge Verbundenheit. Wir haben Angst vor Neuem aber auch vor Vertrautem", ergänzt er und führt das Beispiel eines 40-jährigen Patienten auf, der immer noch bei den Eltern wohnt. Sein Bedürfnis sich zu lösen wurde gleichzeitig von der Angst, Vertrautes zu verlassen, blockiert.
Ängste werden zum Leitsymptom
Auch bei Paaren führen der Trennungswunsch und das gleichzeitige noch festere Anklammern oft in eine Sackgasse. Kommunikationsblockaden fördern Stagnation. Ein Sich-unverstanden-fühlen aus der Kindheit komme hoch. Die daraus resultierende, fehlende Selbstakzeptanz könne sich Jahre später in der Beziehungsstruktur wiederholen. Generell lasse ein gestörtes soziales Umfeld oft kaum Raum für Subjektivität und eigenes Erleben. Aus der Angst vor Diskreditierung entstehe eine Form von Enttäuschungswut. Eine Gefühlsunterdrückung könne Jahre überdauern, manifestiere sich schließlich in physischen Symptomen – wird zum Teufelskreis. Diese „Dampfkochtopf-Situation" kann vom Helfersyndrom bis hin zur altruistischen Selbstaufgabe oder im seltenen Fall sogar bis zum Amoklauf führen. „Wer Angst vor der Angst bekommt, dreht sich um die eigene Achse. Diese Kreisläufe gilt es aufzubrechen", so Thiele.
Da viele Menschen die Krankheit selbst als Bedrohung empfinden oder sich gegen die Vorurteile ihrer Partner und Angehörigen durchsetzen müssen, brauchen sie Zeit für die Entscheidung, betont der Arzt. „Sie kommen meistens erst, wenn der Leidensdruck am größten ist. Nach der Anmeldung und einem ambulanten Vorgespräch kann es zu einer Wartezeit von einer bis zu sechs Wochen kommen. Im ersten Schritt erhalten die Patienten dezidierte Informationen über ihre Erkrankungen und die Therapiemöglichkeiten, um ihnen ihre eigene Urteilsfähigkeit zu ermöglichen. Neben der Abfrage sozialer Parameter wie Beruf, Familie und Herkunft wird das Lebenskonzept, ihre Geschichte sowie die Hintergründe, wie sie die Welt sehen und durchs Leben gehen, abgefragt." Manche Patienten, die schon reifer und reflektierter sind, lassen sich auf die Frage, was dahintersteckt und worum es im Tieferen geht – was sie triggert – schneller ein. Wie jemand „funktioniert" oder in welcher Rolle er sich „inszeniert" wird erst später – im Verlauf einer Art vierwöchigen Probezeit – transparent. Jeder Mensch ist anders vulnerabel.
„Wir behandeln nicht Krankheitsbilder, sondern Menschen – die meist sehr ähnliche Grundprobleme haben. Ziel ist es, sich klarer zu werden über sich selbst mit einem aufdeckenden Therapieansatz", so Thiele. Oft überschneiden sich die Ängste mit Depressionen. Dieses häufiger auftretende Krankheitsbild wird von grundlegend verschiedenen Gefühlen begleitet: Die bedrückende Leere und Lustlosigkeit der Depressiven steht dem alarmierende Unruhezustand – einem Aufschrecken und Bedrohtsein – der Ängstlichen gegenüber.
Therapien miteinander verzahnt
„Unsere Arbeitsweise ist nicht die Diagnose und dann die Therapie, sondern alles ist verzahnt. Neben den Einzelgesprächen liegt der Schwerpunkt auf Gruppengesprächen (zirka acht Personen), die dreimal wöchentlich anderthalb Stunden stattfinden. Bei uns kommen alle Patienten zusammen – sehen sich im Spiegel der anderen. Viele andere Kliniken trennen Angstpatienten und Depressive. Nur Menschen mit chronischen Schmerzen oder Essstörungen werden in einem gesonderten Setting behandelt", erläutert Thiele. Zum Konzept gehört auch die feste Integration nonverbaler Verfahren. Entspannungs- und Körperarbeit wie Tai-Chi, Qi Gong, Atemtherapie oder Feldenkrais werden von Kunst- oder Musiktherapien ergänzt. Im Sommer schwimme man im nahen Wannsee. Der Tag ist lang, beginnt um 6.30 Uhr mit dem gemeinsamen Frühstück und endet um 19.30 Uhr. Auf die Frage nach Medikation reagiert Thiele zurückhaltend: „Im Vergleich zur Psychiatrie, die oft im ersten Behandlungsschritt Medikamente gibt, werden diese bei uns nur bei schwerer Schlaflosigkeit oder sehr hoher Anspannung kurzzeitig verabreicht. Manchmal reicht schon ein Baldriantee. Und selbst bei akuten Panikattacken genügt oftmals das Gespräch."
Das Credo des TWW lautet: „Der kranke Mensch wird als mündiger und mitverantwortlicher Partner in Diagnose, Therapie- und Pflegeprozess einbezogen. Deshalb fördern wir die bewusste Mitwirkung der Patienten – sowohl am Verstehen ihrer Erkrankung als auch am Heilungsprozess. Heilung von Krankheit führt zu Erfahrungen und kann dem Menschen Erkenntnisse und eine neue Bewusstseinsstufe ermöglichen."
Steht ein Patient vor der Entlassung gilt es, ihm Impulse mitzugeben, die er möglichst alltagstauglich verinnerlicht. „Wir wollen Entwicklungen zur Selbsterkenntnis anstoßen. Bestenfalls erwirken wir eine Verbesserung des Zustands oder den Stand vor der Angststörung in Richtung Heilung." Die sei aber utopisch und passiere nicht in ein paar Wochen, da sich die Angst zumeist über Jahre entwickelt hat, betont Thiele. Aber ein wesentlicher Schritt zu mehr Selbstreflektion ist gemacht. Eine einfache Entlassungs-formel könnte lauten: „Versuche du selbst zu sein". Menschen reagieren ähnlich und doch sehr individuell. Lebenswege sind mal verschlungen. So wie die Wege durch den Klinikpark. Dort läuft die zierliche Frau, die so innig umarmt wurde. Ihr Blick ist nachdenklich. Sie ist ganz bei sich und doch nicht allein.