Von Anfang an richtig performen – das haben sich Marco Müller und Küchenchef Florian Mennicken im neuen „Rutz Zollhaus" vorgenommen. Sommelier Hendrik Canis ergänzt mit Weinreisen durch Deutschland und klassischem Bordeaux.
Mit dem leuchtenden Neon-Schriftzug „Rutz" über dem „Zollhaus"-Schild zeigen „die Neuen", dass sie in Kreuzberg angekommen sind. Es handelt sich um eine „freundschaftliche Übernahme" durch Carsten und Anja Schmidt sowie Küchendirektor Marco Müller. Aus dem „Alten Zollhaus" von Herbert Beltle wurde das „Rutz Zollhaus". Die „Rettung der deutschen Esskultur" mit Fokus auf fein durchdeklinierter deutscher Küche bleibt auch im neuen Domizil zentrales Anliegen der „Rutz"-Crew. Das Weinbar-Konzept aus dem Erdgeschoss an der Chausseestraße wurde mit der Eröffnung am 20. Mai gänzlich nach Kreuzberg umgetopft. Nach Umbauten und einer umfassenden Renovierung ist das denkmalgeschützte Landhaus von 1903 nun mit viel Grau und Zartgrün und klarer Linie im Inneren sowie weitläufigem Terrassenplatz unter den alten Kastanien am Ufer des Landwehrkanals fit für die nächsten Jahrzehnte.
Hendrik Canis behält als Gastgeber und Sommelier nicht nur die Gäste, sondern auch die durchschreitbare Weinkühlwand im Eingang fachkundig im Blick. Im transparenten Weinschrank reservierte er seinen Lieblingen aus dem Bordeaux einen eigenen Bereich. Canis war langjährig im „Vau", im „Rutz" und in seiner eigenen „Spindel" tätig. Küchenchef Florian Mennicken stieß Anfang März zum „Rutz Zollhaus"-Team dazu. „Florian kochte als Aushilfe im ‚Rutz‘ für ‚30 Jahre Mauerfall‘ mit", sagt Marco Müller. „Wir hatten das Glück, uns darüber kennenzulernen."
Die Freude über die neue Zusammenarbeit ist gegenseitig. „Ich durfte mit Marco Müller zusammenarbeiten, in ein so schönes Haus kommen und es mit neu eröffnen", sagt Mennicken. Der 33-Jährige fand erst mit 24 über den Umweg von Studium und Spüler-Job zur Koch-Ausbildung in Münster. „Ich hatte schon Interesse am Kochen, aber das war privat noch meine Tomatenketchup-Nudel-und-Eier-Zeit." Das änderte sich bald und erfolgreich: In Berlin kochte er bei Hendrik Otto im „Lorenz Adlon", bei Michael Kempf im „Facil" und zuletzt unter Lukas Bachl als Souschef im ehemaligen „Slate".
Die „Rutz"-Köche nutzten die durch Corona bedingte Pause, um bei „ihren" Bauern, Jägern und Metzgern in der Umgegend vorbeizuschauen. „Wir konnten etwa die richtige Sau suchen, die wir fürs Schlachten wollten", sagt Marco Müller. Es wurde die vom Duroc-Schwein, die sich in den „Zollhaus"-Knackern wiederfindet. Unter dem Motto „Mehr als Wurst ab vier" werden Brühpolnische, Chiliknacker vom Hirsch, Lammbratwurst mit Minze oder Rennsteiger Bratwurst auf der „Gartenkarte" angeboten. Wird sich die neue „Berlin-Wurst", so wie Hambels „Pfälzer Leberworscht" oder die Blutwurst vom Neuköllner „Blutwurstritter" Marcus Benser, ebenfalls als Klassiker etablieren? Immerhin hatte schon vor Jahr und Tag ein gewisser Joschka Fischer die Anregung zur urbanen Wurst aus Wildschwein gegeben. Nun ist es so weit, allerdings mit erlegtem Tier von Stammjäger Jörn Korte aus der Schorfheide. Die gebratene „Berlin-Wurst" wird scheibenweise und mit dem von Florian Mennicken entwickelten „Zollhaus"-Kartoffelsalat mit Estragon und gerösteter Senfsaat zu einer runden Sache.
Wer es leichter mag, der ist beim „Mehr" mit „Hühnersalat und Koriander-Eisbergsalat" oder beim gegrillten Kopfsalat mit ausgelassenem Landspeck und Honig-Estragon-Vinaigrette etwa gut aufgehoben. Der Salat hat Eigengeschmack – erstaunlich. „Der ist von Uwe Maschke vom Wolkensteiner Hof. Er hat eine leichte Bitterkeit, das macht den Unterschied", verrät Mennicken. Parallel stehen zwei weitere deftige Vorspeisen auf dem Tisch: gebratene Blutwurst mit Kartoffelpüree und ein Königsberger Klops mit Kartoffelpüree, Forellenkaviar und Schnittlauch-Öl. Die Aromen ergänzen sich bei Letzterem sehr fein. Ich breche in spontane Klopsliebe aus. Oft gibt’s auf Wunsch auch mehr. Und es kann eine kleinere oder größere Portion geordert werden. Dazu kommt ein 2018er Bacchus von Wolfram Proppe „mit Holz" ins Glas: „Thüringens Antwort auf Sauvignon Blanc", erklärt Wein-Chef Hendrik Canis. Die volleren Barriquenoten ziehen mit den markanten Aromen des Essens mit.
Durchdachte und elegante Akzente
Beiläufig nimmt uns Canis auf ein regionales Wein-Tasting mit. In der ersten „Vorneweg"-Runde gab’s zweierlei Tatar. Die Veggie-Version von der gerösteten Karotte verbirgt sich unter einem „Atompilz" von Schafsmilch-Creme und Verbenen-Staub. Die fleischliche Variante ist ein „Weinbar"-Klassiker, das Tartar vom Allgäuer Weide-Ochsen mit Speck, Gurke und Forellenkaviar. Ich könnte nicht entscheiden, welches ich lieber mag; so unterschiedlich, aber doch gleichwertig sind beide. Die Karotte ist durch den Eisenkraut-Puder vielleicht einen Tick metallischer und sommerlich-frischer. Dem aufgeschnittenen Ochsen dagegen bekommt der salzige Hauch vom Kaviar sehr gut.
Ein Streifen eingelegte Gurke schickt uns mit Süße und Säure in den Spreewald, ohne dass wir uns einen Meter vom Landwehrkanal fortbewegen müssten. In diesem frühen Dinner-Stadium ist schon unübersehbar: Marco Müller und Florian Mennicken setzen durchdachte, elegante Akzente, wo es der neuzeitlichen und leichteren Interpretation von Hausmannskost guttut.
Hendrik Canis schenkt uns den stählernen, jüngeren Bruder vom Bacchus ein. Der 2019er kommt aus dem Tank und bezirzt uns mit straightem, fruchtsprühenden Sommerwein-Charme. Wir stellen fest: Die Region Saale-Unstrut verdient weinmäßig mehr Aufmerksamkeit!
Wir sind so auf den namensgebenden Fluss eingestellt, dass uns die Ankündigung eines Zanders vom Saaler Bodden kurzzeitig verwirrt. Der Fisch wurde aber in der so bezeichneten südlichen Lagune der Darß-Zingster-Boddenkette und nicht in der mitteldeutschen Weinbauregion gefangen. Er glänzt zusammen mit einem Ragout von grünen Bohnen, Wiesenkräutern, Bohnenkrautöl und Speck. Das Gemüse gibt einen Ausblick auf Florian Mennickens bevorzugte Produkte: „Alles, was ich liebe, kommt jetzt. Bohnen, Pfifferlinge und Erbsen." Ein roséfarbener Grauburgunder „Breitengrad 51" aus der Lage Freiburger Edelacker vom Weingut Frölich-Hake zeigt zum Fisch sowie zum „Graupotto" mit Brandenburger Büffelkäse und Tomatentonic, so Canis, „dass der Osten auch dreckig kann." Es wird kantiger, ausdrucksstärker und ursprünglicher im Glas und geht deutlicher in die Orange-Richtung, als wir es von der Sorte kennen. Das ist überraschend – und gut.
Fleisch überragend saftig
Wir erfreuen uns im Fleischgang an der Brust vom Weidehuhn mit Gartenkarotte, Sonnenblumenkernen und Liebstöckel. Das Karottengrün bereitet ein kontrastfarbiges Püree-Bett für eine geröstete Möhre und deren Hobelspäne. Das Fleisch ist überragend saftig und fleischig; das Resultat von viel Auslauf, 36 Monaten Lebenszeit des Huhns und aromaschonender Zubereitung. „Das ist eines der wenigen Gerichte, die wir Sous-vide garen", sagt Mennicken. Die Begleitung im Glas übernimmt ein Spätburgunder von Böhme und Töchter aus der Saale-Unstrut-Region.
Das Kloster Pforta komplimentiert uns schließlich vollfruchtig mit einer Saalhäuser Riesling-Auslese Edelsüß von der sommerabendlichen „Rutz Zollhaus"-Terrasse herunter. Die Desserts spielen in derselben Liga wie die herzhaften Gerichte – bodenständig im Ansatz, aber ein entscheidendes My weitergedacht. Die „Tom-Kha-Gai-Aromen" zeigen sich in einer würzigen Eiscreme mit Koriander, Basilikum und Chili. Der thailändische Currysuppen-Klassiker wird statt mit Huhn selbstbewusst in Süß durchdekliniert. Der Erdbeertee gibt Bodenhaftung, Eisbergsalatstreifen eine unaufdringlich frische grüne Note. Ein leichtes Weizengras-Öl bringt den Salatgeschmack nach vorn. Dunkelpurpurfarben lockt im benachbarten Schälchen das Holundereis auf seinem Käsekuchen-Spiegel im Stachelbeerkranz zum Anstechen und Weglöffeln. New York, bitte hinschauen – so fein kann Cheesecake im Berlin-Style sein!
Wir tun uns schwer, uns von den spannenden Weinen, der herzlichen Atmosphäre und aus den Gesprächen im Grünen zu verabschieden. Eines ist klar: Die Eröffnung des neuen „Rutz Zollhaus" ist ein Durchstart. Nichts kommt in Beta-Version auf die Teller. Und nichts Geringeres war unter der Oberhoheit von Aromentüftler Marco Müller zu erwarten. Florian Mennicken läuft auf der gleichen Linie. Er sagt: „Wir wollten von Anfang an richtig performen." Wir bleiben erwartungsvoll gespannt, wie die Performance weitergeht.