Susanne und Matthias Strittmatter haben ein Buch vorgelegt, in dem die Grundrechte unserer Verfassung kindgerecht und anschaulich erklärt werden. Im Interview sprechen die Autoren über den Entstehungsprozess des Buchs und die Stärken von Kindern.
Frau Strittmatter, wie haben Sie und Ihre Familie bislang die Corona-Krise überstanden?
Wir haben die Krise richtig gut überstanden. Das hängt unter anderem damit zusammen, dass wir einen eigenen Garten haben und unsere Kinder sich draußen austoben können. Erstaunlicherweise hat auch das Unterrichten zu Hause sehr gut geklappt. Wenn Corona – bei allem Unglück – einen Vorteil gebracht hat, dann ist es, dass unsere Kinder sich jetzt auf die Schule freuen.
Herr Strittmatter, haben damals Ihre Eltern mit Ihnen über Ihre gesetzlich verbrieften Rechte gesprochen?
(kurze Pause) Da muss ich kurz schmunzeln. Sie fragen mich nach meiner Kindheit, diese Zeit ist ja schon gefühlt 120 Jahre her. Ich glaube, ich kann die Frage so beantworten: Sie haben mit mir nicht explizit darüber gesprochen, aber sie haben diese Grundrechte vorgelebt und so an mich weitergegeben. Ein Standard-Satz meiner Erziehung war: „Was Du nicht willst, dass man Dir tu‘, das füg auch keinem anderen zu." Diesen Satz habe ich oft von meinem Vater gehört. Ich glaube, dass in der Kriegskinder-Generation, der meine Eltern angehören, die Grundrechte sehr viel stärker verankert waren. Allerdings wurden die nicht jeden Tag ausdrücklich formuliert. Ein anderer Standard-Satz, der mich prägte, war: „Von deutschem Boden soll kein Krieg mehr ausgehen."
Susanne Strittmatter: Auch in meiner Familie wurden die Grundrechte vorgelebt. Wenn man die Zeit der 70er-Jahre mit der heutigen Zeit vergleicht, bestand da ein größerer Konsens in der Würdigung dieser Grundrechte und Einigkeit darüber, was man darf und was nicht. Das geht heute doch ein wenig auseinander.
Warum haben Sie sich entschieden ein solches Buch zu schreiben?
Susanne Strittmatter: Das Initial für das Buch war die Frage, welche Klammer uns als Gesellschaft eigentlich zusammen hält und innerhalb welcher Rechte und Pflichten sich jeder ausleben kann, wie er es gerne möchte. Wir waren uns schließlich einig, dass dies das Grundgesetz ist, und dass der Konsens wieder da sein und damit auch eine Auseinandersetzung mit selbigem erfolgen muss.
Matthias Strittmatter: Die Idee, das Buch zu schreiben, kam uns 2015, 2016. Der Ausgangspunkt war der sich verschärfende Ton im gesellschaftlichen Diskurs. Auch haben persönliche Erfahrungen auf unseren beiden Arbeitsplätzen eine Rolle gespielt, wo beispielsweise gegenseitiger Respekt und wichtige Höflichkeitsformeln im Umgang immer mehr verloren gegangen sind. Zuerst sind wir in diesen larmoyanten Chor eingestiegen und dachten, unsere Demokratie geht vor die Hunde. Bis uns klar wurde, dass das alles Gerede ist und wir damit keinem helfen. Dann kam die Idee, und wir fragten uns, wo wir den Hebel ansetzen können. Wir dachten: Wenn alles bei den meisten schon so verfestigt ist, werden wir es den Erwachsenen nicht mehr beibringen, dann sollen Kinder unsere Zielgruppe sein. Gerade in den Schulen können die Kinder, unabhängig von Herkunft, Hautfarbe oder Religion, Grundlagen unserer Demokratie erlernen.
Susanne Strittmatter: Wir sind als Eltern persönlich betroffen, denn wir haben vier farbige Adoptivkinder, zwei aus Thailand und zwei von den Philippinen.
Matthias Strittmatter: Unsere beiden Töchter wurden aufgrund ihres asiatischen Aussehens zu Beginn dieser Pandemie diffamiert, herabgewürdigt und gedemütigt, weil angeblich Chinesen das Virus ins Land geschleppt haben.
Ist es Ihnen schwergefallen, diese abstrakte theoretische Sprache auf eine leichte und klare Sprache herunterzubrechen?
Susanne Strittmatter: Das Herunterbrechen ist schwieriger als das Verschwurbeln – das ist richtig. Aber ich denke, da wir jeden Tag mit unseren vier Kindern, die noch zu Hause wohnen, im Gespräch sind, ist das einfache Erklären von schwierigen Sachverhalten auch Tagesgeschäft.
Matthias Strittmatter: Wir haben natürlich zum einen das Buch mit kindgerechten Beispielen unterfüttert, um die Grundrechte aus dem Abstrakten herauszuholen und Situationen aufzuzeigen, in denen die zentralen Begriffe für Kinder erfahrbar werden. Die zweite Erfahrung ist: Ein Lehrer kann Dinge leichter erklären, wenn er sie wirklich bis ins letzte Detail durchdrungen hat. Das war in der Tat sehr aufwendig für uns beide, den Begriff der Würde zu erfassen. Erst, wenn man die Begrifflichkeiten gut verstanden hat und mit der Lebenswelt des Kindes kombiniert, dann fällt einem auch das Formulieren leichter.
Denken Sie, dass während der ersten Corona-Welle die Grundrechte von Kindern eingeschränkt worden sind und, wenn ja, inwiefern?
Susanne Strittmatter: Natürlich haben wir alle Einschränkungen erfahren. Aber alle im gleichen Maße. Wir stehen alle weiterhin auf dem Boden dieses Grundgesetzes, auch wenn der Gürtel enger geschnallt werden musste. Für uns alle. Es wurden keine Gruppen diskriminiert. Darum finde ich es höchst verwerflich und zynisch, wenn sich jetzt Leute den Judenstern anheften. Unser Grundgesetz sagt es klar und deutlich: Es gibt nicht nur ein „Ich" und nicht nur ein „Wir", sondern man muss beides zusammendenken. Das macht das Grundgesetz genauso: Es sagt, man darf sehr viel, aber nicht alles, weil es den Anderen gibt, der irgendwo anfängt. Weil es eine Gemeinschaft gibt.
Matthias Strittmatter: Die Glaubensfreiheit war zum Beispiel in ihrem Wesensgehalt während der vergangenen sechs Wochen nicht wirklich eingeschränkt – wenngleich die Religionsausübung nicht gemeinsam mit anderen Gläubigen stattfinden durfte. Jeder in Deutschland konnte und durfte seine Religion ausüben. Was tatsächlich eingeschränkt war, war die Versammlungsfreiheit – aus gutem Grund. Trotz allem haben wir auf dem Boden des Grundgesetzes diese Notsituation gut gemanagt und überstanden.
In Ihrem Buch heißt es, dass Regeln fundamental wichtig für ein friedliches Zusammenleben sind. Wie können junge Menschen es schaffen, diese Regeln, die im deutschen Grundgesetz stehen, zu verinnerlichen und zu leben?
Susanne Strittmatter: Wir schreiben an einer anderen Stelle im Buch: „Du hättest dieses Buch auch selbst schreiben können." Eigentlich wissen Kinder sehr genau, was sie dürfen und was nicht. Sie wissen, dass, wenn man sich streitet, miteinander redet und dem anderen nicht einfach die Schippe über den Kopf haut. Und sie wissen, dass sie ihre Meinung äußern dürfen. Ich traue Kindern da ganz viel zu.
Matthias Strittmatter: Das war letztlich unser Ansatz, in dieser sensiblen Phase von Kindern unser Buch zu platzieren. Auf der einen Seite haben in dieser Lebensphase Kinder ein sehr gutes Gespür für sinnvolle Regeln untereinander, zum Beispiel Konflikte zu lösen. Andererseits werden sie zum ersten Mal mit offiziellen Regeln, zum Beispiel in der Schule, konfrontiert. Kinder sind unsere zukünftigen Demokraten. Wenn wir wollen, dass diese Gesellschaftsform erhalten bleibt, brauchen wir in Zukunft mündige Bürger. Je früher ich damit anfange, Demokratieverständnis beizubringen, umso sicherer kann ich davon ausgehen, dass dieses Grundgesetz auch in den nächsten 50 Jahren noch funktioniert.
Susanne Strittmatter: Das Buch bündelt das, was Kinder in den ersten Lebensjahren erfahren und was sie als richtig und falsch unterscheiden lernen.