Seit gut 20 Jahren bemühen sich verschiedene Organisationen um eine Renaturierung geschädigter europäischer Ökosysteme. Das Konzept sieht vor, dass ab einem gewissen Punkt die Natur selbst die Aufgabe ohne weiteres menschliches Zutun erledigen soll.
Kaum zu glauben, dass in Mitteleuropa, wo die Infrastruktur bestens ausgebaut ist, natürliche Ressourcen über alle Maßen genutzt werden und es kaum noch Lebensräume für wild lebende größere Säugetiere gibt, doch noch einige Wildnisgebiete gibt. Dort kann der Naturfreund eine ungewöhnliche Vielfalt und Anzahl von kaum mehr anzutreffenden Pflanzen- und Tierarten vorfinden. Die Rede ist vom Stettiner Haff, einer einzigartigen Naturlandschaft rund um das Oder-delta an der Ostseeküste zwischen Polen und Deutschland, das den Beinamen „Amazonas des Nordens" erhalten hat.
Das Stettiner Haff ist eines von acht europaweiten Vorzeigeprojekten, die die Non-Profit-Organisation Rewilding Europe bislang realisieren konnte, wobei sie auf die Mitarbeit von verschiedenen Partnern auf europäischer, nationaler oder lokaler Ebene angewiesen war. Vergleichbare Projekte wie das Stettiner Haff hat Rewilding Europe rund um das Biosphärenreservat Donaudelta in der Grenzregion Ukraine, Rumänen, Moldawien und in den rumänischen Karpaten, im kroatischen Velebit-Massiv, im schwedischen Lappland, im portugiesischen Coa-Tal, im italienischen Apennin oder im bulgarischen Rodopi-Gebirge geschaffen. Auch die Lausitz mit ihren stillgelegten Kohlegruben, den savannenartig anmutenden Ebenen und dem riesigen künstlichen Seengebiet wird hierzulande schon Schritt für Schritt renaturiert.
Damit hat Rewilding Europe bereits einen bemerkenswerten Beitrag zur Erhaltung der Biodiversität geleistet, der bis vor Ausbruch der Corona-Pandemie auch in der EU unter Federführung von Ursula von der Leyen höchste Priorität eingeräumt worden war. Schließlich besteht diesbezüglich ein enormer Handlungs- und Nachholbedarf, wurden doch viele Ziele der im Jahr 2011 verabschiedeten „Biodiversitätsstrategie der EU bis 2020" nicht erreicht, vor allem nicht die eigentlich für alle Mitgliedsstaaten verpflichtende Vorgabe, 15 Prozent der Landfläche mit geschädigten Ökosystemen bis 2020 wiederherzustellen. Kaum eine Nation hat bisher entsprechende Renaturisierungsarbeiten in Angriff genommen oder auch nur konkrete Pläne dafür entwickelt.
Strategien der EU bisher gescheitert
Auch die Fortschritte beim Ausbau der sogenannten Natura-2000-Gebiete, die seit 1992 länderübergreifend den Schutz und den Erhalt von natürlichen Lebensräumen sowie wildlebender heimischer Pflanzen- und Tierarten gewährleisten sollen, sind nicht gänzlich zufriedenstellend.
Grund genug offenbar für die EU, vor allem im Rahmen des ambitionierten „Green Deals" eine neue „EU-Biodiversitätsstrategie bis 2030" auf den Weg zu bringen, deren Verabschiedung allerdings wegen Corona im ersten Halbjahr 2020 immer wieder verschoben wurde. Logisch, dass im Vorfeld die EU von Rewilding Europe, aber auch von anderen Organisationen wie WWF und auch von Wissenschaftlern der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg und des Deutschen Zentrums für Integrative Biodiversitätsforschung (iDiv) mit Statements und Positionspapieren, auf denen vorrangig regenerationsbedürftige Gebiete ausgewiesen wurden, bombardiert wurde.
„Wir müssen mehr Natur und Wildnis in Europa wagen – für die biologische Vielfalt und für die Menschen", so Dr. Néstor Fernández, Forscher beim iDiv. „Jetzt liegt es an den EU-Politikern, dafür zu sorgen, dass dies in ganz Europa geschieht." In sämtlichen Mitteilungen wurde der Grad der ökologischen Degradierung europäischer Landschaften exakt beschrieben und darüber hinaus die Wiederherstellung grüner Korridore gefordert. Eine ganze Serie geografischer Karten, auf denen die Veränderungen und Schädigungen der Natur in weiten Teilen Europas veranschaulicht und prioritäre Renaturierungsgebiete ausgewiesen werden, enthält das Opus „Boosting Restoration for a Wilder Europe". Frappierend dürfte dabei sein, dass es in Europa kaum mehr zusammenhängende ökologisch intakte Lebensräume gibt, außer in einigen Gebieten der Karpaten oder im nördlichen Skandinavien. „Wir brauchen grüne Infrastruktur, damit kleine Korridore quer durch Europa entstehen können", so Fernández in einem Beitrag der „Süddeutschen Zeitung" (SZ).
Erhalt der Biodiversität
Dabei könnten Mosaiklandschaften aus Wald und Grasland entstehen, womit Europa früher überzogen war. „Große Grasfresser brauchen wir wieder", so die iDiv-Forscherin Andrea Perino im gleichen „SZ"-Beitrag, „wenn wir nicht für teures Geld gegen die natürliche Verwaldung ankämpfen wollen." Birdlife Europe stellte in einem eigenen Positionspapier die Forderung auf, dass bis 2030 30 Prozent der Landflächen und Meere in der EU „hauptsächlich im Interesse von Natur und Biodiversität bewirtschaftet" werden sollen. Selbst die Corona-Pandemie wurde im Kampf für die Bewahrung der Biodiversität instrumentalisiert, indem sie zu einem weiteren Symptom der beiden anderen großen Krisen der Welt, dem Klimawandel und dem Verlust der Artenvielfalt, deklariert wurde.
Rewilding gilt inzwischen als erfolgversprechendes Konzept zum Erhalt der Biodiversität. „Beim Rewilding richtet man den Blick auf das Ökosystem als Ganzes und versucht durch gezielte Maßnahmen, seine Funktionalität wiederherzustellen", so Andrea Perino auf der iDiv-Webseite. „Ziel ist ein Ökosystem, das sich auf lange Sicht weitgehend ohne menschliche Hilfe regeneriert und selbst erhält." Gemeinsam mit ihrem iDiv-Kollegen Prof. Henrique Miguel Pereira hat sie vor einem Jahr im Fachmagazin „Science" eine Blaupause über die optimale Planung und Umsetzung von Rewilding unter Einbeziehung und Einbindung der Bevölkerung vor Ort veröffentlicht. Demnach gebe es nicht das eine ideale Ökosystem, das man durch bestimmte, immer gleiche Maßnahmen herstellen könne. Vielmehr komme es darauf an, die Funktionen des jeweiligen Ökosystems zu betrachten, die Störungen in diesem System zu analysieren und dann die geeigneten Instrumentarien zur Revidierung der gestörten Prozesse einzusetzen. Danach könnten die menschlichen Hilfseingriffe in die Natur verringert oder ganz eingestellt werden. Ohne einen menschlichen Anschub können beispielsweise jahrzehntelang ausgelaugte Böden sich nicht mehr in funktionierende Ökosysteme verwandeln. Beim Rewilding werden den ausgewählten Flächen aber auch Arten zugeführt, die dafür sorgen, dass wieder eine gesunde Dynamik im Ökosystem entstehen kann.
Vor allem die Wiederansiedlung von Wisent, Wildpferd, Bär oder Wolf hat sich als sehr vorteilhaft erwiesen. Langfristig wird der Mensch vom Rewilding enorm profitieren können: sauberere Luft, reineres Wasser, Bindung klimaschädlicher Kohlenstoffe, fruchtbarere Böden, verbesserter Hochwasserschutz, höhere Widerstandsfähigkeit gegen Klimaextreme. „Mindestens 20 Prozent der degradierten Flächen in Europa müssen bis 2030 renaturiert werden", so Fernández gegenüber der „SZ". Darüber hinaus werden durch die fortschreitende Stilllegung von nicht mehr profitablen Landwirtschaftsflächen beachtliche Räume hinzukommen. „Ihre Größe wird vermutlich zwischen der von Portugal und Italien liegen", so Perino gegenüber der „SZ", in dem sie zudem Gewerbeparks, Siedlungen und auch Straßennetze als nichts anderes als geschädigte Ökosysteme bezeichnete.