In der Pandemie hat der öffentliche Nahverkehr in Deutschland gut und rasch reagiert, sagt der Berliner Mobilitätsforscher Dr. Weert Canzler. Trotz Skepsis vieler Mitfahrer und Hygieneregeln müsse der ÖPNV weiter ausgebaut und mit anderen Verkehrsmitteln ergänzt werden.
Herr Canzler, fahren Sie in diesen Zeiten noch gern U-Bahn, S-Bahn oder Bus in Berlin?
Schon vor der Corona-Krise bin ich weniger Bus und U-Bahn gefahren, sondern S-Bahn und in der Stadt mit dem Fahrrad. In der S-Bahn fühle ich mich recht sicher, schon vorher und auch jetzt ist immer genug Platz, es sei denn, man fährt zur absoluten Rushhour. Denn das Fahrgastaufkommen in Berlin hat schon wieder etwas angezogen, wenn auch noch nicht auf Vorkrisenniveau. Das heißt, wir haben vor allem morgens und am Nachmittag schon wieder volle U-Bahnen.
Schadet diese Krise dem ÖPNV denn langfristig? Auch wenn es in Berlin derzeit nicht so aussieht?
Das hängt wesentlich davon ab, wie und wann es gelingt, das Virus zu besiegen, mit einem Impfstoff beispielsweise. Wenn dieser zu bezahlbaren Preisen erwerbbar ist, ohne Nebenwirkungen, dann ist das mittel- bis langfristig kein Problem. Wenn es allerdings lange dauert, das Virus immer wieder aufflackert, es eine zweite oder mehrere Wellen gibt, wird es für den ÖPNV in den kommenden Jahren ein großes Problem bleiben.
Stellen sich deutsche Verkehrsbetriebe schon darauf ein? Zum Beispiel durch technologische Innovationen, wie beispielsweise automatisierte Zugänge zu Stationen und Bahnen unter Einhaltung von Abständen und Hygieneregeln?
Zunächst nur durch Änderungen in Tarifen, indem zum Beispiel für alle Fahrten nur noch das Kurzticket bezahlt werden musste – keine schlechte Idee, zeigte sich doch eine schnelle Reaktion mancher Verkehrsbetriebe. Es gibt zwar Unternehmen, die zum Beispiel mittlerweile bei zu engen Abständen zwischen den Menschen akustische Signale ertönen lassen, aber dies sind nur vereinzelte Maßnahmen, meist im Versuchsstadium. Es gibt jedoch Start-ups, die in diesem Bereich an Lösungen arbeiten.
Für den urbanen Nahverkehr braucht es Massentransportmittel wie Busse und Bahnen. Der akute Vertrauensverlust durch die Corona-Krise in diese Transportmittel ist aber laut Studien hoch. Droht uns ein Verkehrsinfarkt durch den verstärkten Individualverkehr?
Dass die Menschen nicht wieder in U-Bahnen oder Busse einsteigen, glaube ich nicht. Das hängt ganz davon ab, wie die Pandemie verläuft. Nach einer Weile wird das Vertrauen zurückkehren, weil für viele Wege Bahnen und Busse in der Stadt einfach das sinnvollste Verkehrsmittel sind. Aber das Fahrrad wird gerade auf kurzen Strecken sehr wichtig. Das zeigt sich in ganz Europa: in Madrid, Helsinki, Oslo oder in Paris, wo die Bürgermeisterin vor Kurzem mit einem rigiden Anti-Auto-Wahlkampf wiedergewählt worden ist, sie will den Fahrradverkehr und den Verkehr zu Fuß stärken.
Im Augenblick rufen die Nahverkehrsbetriebe vor allem nach Geld, bekommen das auch von Bund und Ländern. Nutzen diese das Geld auch, um den Nahverkehr nach einem fast 90-prozentigen Einbruch der Fahrgastzahlen deutschlandweit wieder attraktiver zu machen?
Das eine ist die akute Nothilfe für einen ÖPNV, der erhebliche Einkommensverluste im März, April und Mai zu verzeichnen hatte. Diese Hilfe von Bund und Ländern ist nötig und richtig. Was die darüber hinausgehenden Investitionen angeht, muss der ÖPNV weitere Einnahmen erschließen, indem das Angebot verbessert wird. Es reicht nicht mehr von Haltestelle zu Haltestelle zu fahren. Das Auto hat uns sozialisiert und wir sind es gewohnt, ohne Stop von A nach B zu kommen. Deswegen braucht es ein entsprechendes Angebot von sogenannten intermodalen Diensten, also verschiedenen Verkehrsmitteln unter dem Dach des ÖPNV: flexibler, moderner und auf Abruf. So weit waren wir ja bereits vor der Pandemie. Wir brauchen also beides: Nothilfen und Investitionen in die Zukunft. Die Berliner Verkehrsbetriebe haben beispielsweise einen Vertrag mit dem Berliner Senat geschlossen, um in die Betriebe in den kommenden Jahren einen zweistelligen Milliardenbetrag zu investieren: um den Wagenpark zu modernisieren, Elektrobusse anzuschaffen oder neue Strecken zu bauen. Auch das ist notwendig.
Sehen Sie jetzt die Chance zur Modernisierung, auch durch das aufpolierte Personenbeförderungsgesetz des Bundes?
Die Gesetzesnovelle ist ein kleiner Kompromiss, es entstehen ein paar Veränderungschancen. Aber der große Wurf steht hier noch aus. Ich hätte mir wesentlich mehr gewünscht. Ganz entscheidend ist aktuell, dass die zarten Pflänzchen der intermodalen Angebote jetzt gehegt werden müssen. Ein Beispiel ist der „Berlkönig" in Berlin, ein flexibles Sammeltaxi-Angebot. Diese innovativen Dienste drohen wegzubrechen. Sie müssen mit dem traditionellen ÖPNV der Busse und Bahn verbunden werden. In den Randbereichen von Städten und zu den Tagesrandzeiten sind diese Dienste wertvoll und sollten mit dem ÖPNV verknüpft werden. Wie das geht, zeigt im Prinzip der Dienst Clever Shuttle, der leider in der Krise in vielen Städten sein Angebot einschränken oder ganz einstellen musste. Bisher fehlt noch der politische Wille, intermodale Angebote als Teil des öffentlichen Personennahverkehrs zu definieren.
Wie soll diese Umstellung angesichts sinkender Fahrgastzahlen finanziert werden? Müssen wir uns auf höhere Ticketpreise einstellen?
Möglicherweise. Es sei denn, es werden neue Einnahmequellen generiert. Wir schlagen konkret vor, eine City-Maut für Autos zu erheben und die Einnahmen zweckgebunden dem ÖPNV zufließen zu lassen, um diesen weiter auszubauen. Dann müssten die Ticketpreise nicht weiter steigen, man könnte die Einnahmen auch nutzen, um das berühmte 365-Tage-Ticket zu subventionieren. Das wäre ein radikaler Schritt in eine andere Finanzierung, die Autofahrer für die Nutzung von städtischen Verkehrs- und Parkflächen zahlen zu lassen.
Bei all den teuren Investitionen in einen besseren ÖPNV, die Fahrgastzahlen sind in den vergangenen Jahren in Deutschland kaum gestiegen, dafür aber die Zahl der Pkw-Neuzulassungen. War das Geld also verschwendet?
Die Zahlen zeigen, dass dort, wo der ÖPNV gezielt gestärkt wurde, die Fahrgastzahlen gestiegen sind. Im Großraum München beispielsweise, bei S-Bahn-Verbindungen im Rhein-Main-Raum, in Hannover, in Berlin. Aber es stimmt, dass sich im Gesamtdurchschnitt von Deutschland die Fahrgastzahlen nur wenig bewegt haben. Dafür sind die Zahlen bei den Neuzulassungen von Autos in der Tat gestiegen. Aber die Fahrleistung pro Pkw hat abgenommen, das heißt die Autos stehen mehr herum als dass sie fahren. Es wurde aber auch an einigen Orten in den ÖPNV investiert, ohne dass sich die Zahl der Fahrgäste erhöht hat. Für mich folgt daraus, dass die innovativen Dienste rund um den klassischen ÖPNV gestärkt werden müssen, und nicht nur der klassische Bus- oder Bahnverkehr.