Corona beschert den Bussen und Bahnen Einnahmeverluste in Milliardenhöhe. Die Verkehrswende wird durch die Krise gebremst. Verkehrsunternehmen planen neue Angebote.
Auf dem Berliner U-Bahnhof Eisenacher Straße geht es an diesem Donnerstag diszipliniert zu. Alle Fahrgäste, die warten, ein- und aussteigen tragen eine Maske. Das ist in der Hauptstadt nicht immer der Fall. Insbesondere außerhalb der Stoßzeiten lasse die Bereitschaft zur Verhüllung von Mund und Nase nach, stellt die BVG, das größte Nahverkehrsunternehmen Deutschlands, fest. Das kann die Fahrgäste teuer zu stehen kommen. „Maskenmuffel riskieren mindestens 50 Euro Strafe", warnt die Laufschrift auf dem Fahrtanzeiger der Station. Und das ist nur das von der BVG verordnete Bußgeld. Verweigern Kunden mehrfach den Virusschutz, kann die Polizei bis zu 500 Euro Bußgeld verordnen.
Ein Stück weit Normalisierung kehrt im öffentlichen Nahverkehr zum Glück wieder ein. Der nächste einfahrende Zug ist gut besetzt. Die Angst vor einer Ansteckung bei der Fahrt zur Arbeit oder zur Uni lässt anscheinend nach. Als die Pandemie begann, waren die Busse und Bahnen nicht nur in Berlin fast leer. Überall im Land vermieden die Menschen die Fahrt mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Die Auslastung lag plötzlich nur noch bei 20 Prozent des üblichen Wertes. So fasst zum Beispiel ein Münchner U-Bahn-Zug 820 Fahrgäste. Drinnen saßen während der Ausgangssperre nur 120. So wurde statt zahlenden Passagieren viel heiße Luft transportiert.
Das bescherte den Stadtwerken happige Einnahmeverluste, wie dessen Chef Ingo Wortmann erläutert. Er spricht auch als Präsident des Verbands Deutscher Verkehrsunternehmens (VDV). Fünf Milliarden Euro fehlen den 600 Nah- und Güterverkehrsbetrieben in diesem Jahr. Die Auslastung im Nahverkehr sei zwar wieder auf die Hälfte gestiegen. Doch eine Rückkehr zu normalen Verhältnissen wird Wortmann zufolge noch weit ins nächste Jahr hinein dauern. 2021 rechnet Wortmann mit weiteren Verlusten von etwa drei Milliarden Euro.
„Normale" Unternehmen schränken ihr Angebot ein, wenn die Geschäfte schlecht laufen. Die Busse und Bahnen sind jedoch fast den normalen Fahrplan gefahren. Sie sind ein unverzichtbarer Bestandteil der Daseinsvorsorge. Schließlich müssen nicht nur die Angehörigen der systemrelevanten Berufsgruppen wie das Personal in Krankenhäusern oder Pflegeheimen täglich ihren Arbeitsplatz erreichen. Weniger Einnahmen bei gleichen Kosten sind die Folge. „Wir haben keine Rücklagen, mit denen wir die Probleme abfedern können", sagt Wortmann.
Statt Passagieren in der Krise nur viel heiße Luft transportiert
Inzwischen ist die Finanzierung des Nahverkehrs gesichert. Bund und Länder gleichen die Verluste aus. Kostendeckend arbeiten die meist kommunalen Unternehmen ohnehin nicht. Von 100 Euro, die ihr Angebot kostet, holen sie in der Regel nur 75 bis 80 Euro durch den Verkauf der Tickets wieder herein. Ohne staatliche Zuschüsse gäbe es kein flächendeckendes Angebot. Hauptfinanzier ist der Bund, der den Ländern für diese Aufgabe in diesem Jahr knapp neun Milliarden Euro sogenannter Regionalisierungsmittel überweist.
Wenn sich Kunden über das Nahverkehrsangebot ärgern, richtet sich ihr Zorn in der Regel gegen das jeweilige Unternehmen, zum Beispiel die Deutsche Bahn. Tatsächlich bestimmen jedoch die Länder, wo wie viel Verkehr stattfindet. Sie, beziehungsweise ihre jeweiligen Aufgabenträger, schreiben die Verkehrsleistungen aus und bestimmen dabei auch den Umfang. Da solche Verträge langfristig angelegt werden, ist auch eine schnelle Ausweitung des Angebots schwer möglich.
Die offene Frage ist, wie es mit dem Nahverkehr weitergeht. In den vergangenen Jahren stiegen immer mehr Pendler auf Busse und Bahnen um. Der Nahverkehr ist eines der wichtigsten Eckpfeiler der angestrebten Verkehrswende. Bis Corona kam, schien eine glänzende Perspektive vorgezeichnet. Doch nun hängt alles von der Bewältigung der Pandemie ab. Viele Stammkunden sind auf das Fahrrad oder das Auto ausgewichen, weil sie sich in den öffentlichen Verkehrsmitteln unbehaglich fühlen. Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer (CSU) ist sich des Problems bewusst. „Jetzt müssen wir schauen, dass das Grundvertrauen in den öffentlichen Verkehr wiederhergestellt wird", sagt er.
Für den Bahnvorstand Berthold Huber, verantwortlich für den Personenverkehr, stellt sich diese Frage mittelfristig gar nicht. „Das Wachstum des motorisierten Individualverkehrs hat als Wohlstandsindikator längst ausgedient", sagt Huber, „daran ändert auch Corona nichts." Die vielfältigen Angebote des öffentlichen Nahverkehrs seien das Rückgrat der Verkehrswende. In Zukunft würden die herkömmlichen Nahverkehrsangebote verstärkt mit neuen Sharing-Angeboten verknüpft, leicht zugänglich und in die bestehenden Tarife eingebunden. So leuchtend ist die Zukunft jedoch derzeit noch nicht.
Denn Corona ist längst nicht das einzige Problem der Branche. Es mangelt zum Beispiel auch an Fahrern. Vielerorts fallen deshalb Busse und Bahnen aus. Auf lange Sicht zeigt sich die Branche trotzdem zuversichtlich, an Rekordzeiten wieder anknüpfen zu können. Dafür sollen auch neue Angebote sorgen. Ein Blick in den Zukunftszug der Deutschen Bahn gibt einen Vorgeschmack auf bessere Zeiten. Mit Plätzen zum Arbeiten oder Infoangeboten während der Fahrt oder einer stabilen Internetverbindung skizziert der Konzern eine attraktive Perspektive des Nahverkehrs.
Unternehmen greifen gesellschaftliche Mobilitätstrends auf
Die Digitalisierung treibt Innovationen im öffentlichen Nahverkehr voran. Die Verkehrsunternehmen wollen gesellschaftliche Mobilitätstrends aufgreifen und daraus neue Angebote zusammenstellen. Die Stichworte sind lauter Anglizismen. Ridepooling, Carsharing oder Bikesharing sind dabei zentrale Begriffe. Auf deutsch zusammenfassen ließen sie sich mit den Prinzipien teilen und nutzen, statt besitzen. Im Idealfall kann sich ein Kunde oder eine Kundin mit dem Smartphone seine ganze Reisekette durchbuchen und muss sich um nichts mehr weiter kümmern.
Dann holt zum Beispiel ein Sammeltaxi die Kunden zu Hause ab und fährt sie zur nächsten S-Bahn-Station. Am Zielbahnhof wartet schon ein Leihfahrrad für die letzten Kilometer zum Büro. Technisch machbar ist das alles längst. Wirtschaftlich ist jedoch längst nicht alles. Ein anschauliches Beispiel dafür ist ein Angebot der Berliner BVG. Ihr „Berlkönig" kann per App als Sammeltaxi gebucht werden. Bis zu sechs Fahrgäste werden für die Fahrt mit dem Kleinbus abgeholt und an ihr individuelles Ziel transportiert.
Doch längst nicht alle Berliner können den preiswerten Dienst nutzen. Das Angebot gilt gerade einmal im östlichen S-Bahnring. Auf größeren Flächen lässt sich dieses Konzept nicht tragfähig umsetzen. Vor diesem Problem stehen nicht nur öffentliche Verkehrsunternehmen. Auch Carsharing-Firmen sind meist nur dort unterwegs, wo viele Menschen auf engem Raum zusammenkommen.
Corona hat auch bei den Mobilitätsdiensten tiefe Spuren hinterlassen. Schließlich vermeiden verunsicherte Kunden auch die Fahrten in Taxidiensten und fremden Fahrzeugen. Es fehlen zudem die Einnahmen aus Großveranstaltungen und durch Touristen. „Das bremst die Verkehrswende ab", räumt VDV-Sprecher Lars Wagner ein. Wann sich die Lage wieder normalisiert, vermögen auch die Branchenexperten nicht zu schätzen. Bahnchef Rüdiger Lutz geht davon aus, dass eine echte Normalisierung erst mit der Entwicklung eines Impfstoffs gegen Covid-19 oder der Entwicklung wirksamer Medikamente eintreten wird.