Kein Fest, kein Konzert: Eventveranstalter sind langsam am Verzweifeln. Bis voraussichtlich Ende Oktober dürfen sie nicht arbeiten. Viele Tänzer, Maskenbildner oder Akrobaten mussten bereits Hartz IV beantragen. Selbst der berühmte Cirque du Soleil hat Antrag auf Insolvenzschutz gestellt.
Die Lagerhalle im Industriegebiet vor Oldenburg steht in der prallen Sonne. Drinnen: Wagen, Zeltplanen, Sitzbänke, Zeltstangen, die Lichtanlange – alles zusammengepackt. Der große, rote Manegen-Teppich jedoch ist hinten in der Ecke ausgerollt. Darüber, in knapp anderthalb Meter Höhe, hat Luftakrobatin Deborah Belly zwischen zwei Hallenpfeilern ein Drahtseil gespannt. In dieser wenig einladenden, stickigen Halle trainiert sie nun jeden Tag, zumindest für zwei Stunden. „Nicht das Training an sich kostet mich sehr viel Kraft, sondern dass ich jeden Tag immer wieder in die Halle gehe und überhaupt aufs Seil steige. Immer wieder frage ich mich: Warum machst du das, wir haben doch eh bis auf Weiteres Auftrittsverbot." Laut den derzeit gültigen Corona-Vorgaben mindestens bis Ende Oktober.
Doch die Luftakrobatin muss jeden Tag trainieren, egal ob nun der Familienzirkus in der Lagerhalle bleibt oder wieder raus zu den Menschen darf. „Wenn du als Akrobatin nur sechs Wochen raus bist aus dem Training, brauchst du mindestens die dreifache Zeit, um wieder reinzukommen. Die Muskulatur ist dabei nicht das Hauptproblem, sondern die Dehnbarkeit der Sehnen lässt sehr schnell nach", sagt Belly.
Aber ein Hochleistungstraining braucht immer auch die entsprechende Motivation, und die hat bei der 42-Jährigen durch die wirtschaftlichen Sorgen um ihren Familienzirkus erheblich gelitten. „Bei uns geht es ja nicht nur um uns Menschen. Wir können uns einschränken, verzichten. Aber unsere 23 Tiere müssen ja etwas zu fressen kriegen." Und das kostet Geld, um die 5.000 Euro im Monat. „Wir können doch die Tiere nicht einfach weggeben, das bringt doch kein Mensch übers Herz." Ganz abgesehen davon, dass die dressierten Affen, Pferde, Lamas oder auch Hausschwein Rolf ja vermutlich Ende des Jahres wieder gebraucht werden. „Wir haben Glück, dass uns jetzt die umliegenden Bauern, die wir ja seit Jahren kennen, mit Futter umsonst versorgen, in der Hoffnung dass es bei uns bald wieder bergauf geht und wir dann nachträglich die Rechnungen begleichen können."
Deborah Belly leitet den Familienzirkus in vierter Generation, „aber so eine Krise gab es noch nie." Dies musste selbst der weltberühmte Cirque du Soleil erfahren. Anfang Juli kündigte die Geschäftsführung an, Insolvenzschutz zu beantragen und vorerst 3.500 Angestellte zu entlassen. Die angekündigten Shows in Deutschland sollen dennoch zu einem späteren Zeitpunkt stattfinden, berichtete der Rundfunk Berlin-Brandenburg.
Fortbildung vom Jobcenter für einen „Schlangenmenschen"?
Phillip Tigres aus Fulda arbeitet solo als Schlangenmensch im Varieté, auf Hochzeiten, Volksfesten, in Fernsehshows. Ab und zu tritt er auch mal im Zirkus auf. Auch der 45-Jährige muss jeden Tag mindestens drei Stunden trainieren, mit oder ohne gebuchte Auftritte. Seit dem 1. Juli bezieht er nun Geld vom Jobcenter und schlägt sich mit den dortigen Mitarbeitern herum. Denn diese wollen ihn unbedingt in eine Fortbildung stecken. „Was völliger Irrsinn wäre für meinen Job, mit dem ich bislang sehr gut Geld verdient und auch sehr viel Steuern gezahlt habe. Wenn ich nicht regelmäßig trainieren kann, bin ich zukünftig ein Langzeitarbeitsloser, der dann eben keine Steuern mehr zahlt", so Tigres. Verweigert er die Fortbildung, streicht ihm das Jobcenter das Geld; macht er die Fortbildung, kann er nicht mehr richtig trainieren.
„Ähnlich ergeht es vielen freischaffenden Künstlern aus Tanz, Akrobatik und Schauspiel", bestätigt Hanna Kuster. Die 37-Jährige betreibt seit zwölf Jahren eine Künstleragentur in Potsdam-Babelsberg, gleich neben den legendären Filmstudios. In den letzten fünf Monaten hat sich ihr Job schleichend verändert. „Momentan bin ich eigentlich mehr Gesprächstherapeutin, als dass ich Künstler vermittle. Aber diese Gespräche sind unheimlich wichtig, denn ein Künstler ist von Natur aus ein sensibler Mensch, der sich über seine künstlerische Arbeit definiert. Ist die von jetzt auf sofort ohne persönliches Zutun plötzlich weg, fällt er in ein tiefes, schwarzes Loch", so Kuster.
Eine von jenen, die in diesem Loch feststecken, ist die 57-jährige Maskenbildnerin Mona, die nicht mit ihrem richtigen Namen und schon gar nicht mit einem Foto in der Zeitung erscheinen möchte – so peinlich ist ihr der soziale Abstieg. Das Argument, dass es doch nicht ihre Schuld sei, lässt sie im Gespräch kaum gelten. „Bis Mitte März war ich beruflich und finanziell gute Mittelschicht, habe mir vor 15 Jahren in Schmargendorf, einer Bestwohnlage in Berlin-Wilmersdorf, eine kleine Eigentumswohnung gekauft, die noch nicht abgezahlt ist. Und jetzt bin ich bei Hartz IV angekommen." Der robusten Frau, die schon diverse „Tatort"-Kommissare und Opern-Diven ins rechte Licht gerückt hat, schießen die Tränen in die Augen. Denn so wie es aussieht, wird sie vermutlich erst im Herbst überhaupt wieder arbeiten können. Unklar ist, wie viel Arbeit dann auf sie wartet. Bis dahin muss sie dem Jobcenter erklären, wie sie trotz Hartz IV eine Eigentumswohnung abzahlen kann.
Hanna Kuster von der Potsdamer Künstleragentur kennt solche Schicksale nur allzu gut. Doch der geschilderte Fall „hat ja noch die Aussicht, dass sich das in absehbarer Zeit wieder ändern wird. In meinem Agenturumfeld habe ich bereits zwei Selbstmorde zu beklagen. Die beiden haben einfach keine Perspektive mehr für sich und ihre künstlerische Zukunft gesehen."
„Ein tiefes, schwarzes Loch"
Auch in einem anderen Unterhaltungsbereich ist man dringend auf Publikum angewiesen, weniger als Künstler, viel mehr als Schausteller. Seit Mitte März sind alle Volksfeste in ganz Europa abgesagt und bis Ende Oktober verboten. „Die letzten vier Monate haben unsere Verbandmitglieder ihre Fahrgeschäfte auf Vordermann gebracht. Wenn der Rummel wieder aufmacht, werden die glänzen, wie noch nie", erzählt Thomas Meyer mit bitterer Ironie. Er ist Vizepräsident des Deutschen Schaustellerbundes. „Doch jetzt ist auch wirklich jedes Lämpchen ausgetauscht und nun muss es wieder losgehen, denn Schausteller sind fast ausschließlich Familienbetriebe und irgendwann ist das Geld alle. Und jetzt ist es so weit", schimpft Meyer im FORUM-Interview. Sollte der Lockdown überraschend schon zum 1. September aufgehoben werden, wird das für die Oktoberfeste vermutlich trotzdem wenig Gutes bedeuten. Die Städte und Gemeinden haben in der Regel bereits alle Festivitäten bis weit in den November abgesagt. „Also werden wir vermutlich erst zu den Weihnachtsmärkten wieder voll einsteigen können. Für die Schausteller heißt das: ein Jahr kompletter Verdienstausfall." Verbandsvize Thomas Meyer macht sich erhebliche Sorgen, dass viele der Betriebe auf der Strecke bleiben.
Immerhin gibt es für manchen Schausteller mittlerweile einen kleinen Lichtblick: In ganz Deutschland haben sich Kommunen bereit erklärt, wenigstens einem Teil der Branche unter die Arme zu greifen. In Städten wie Hamburg, Gießen oder Saarbrücken können Schausteller nun ihre Buden aufstellen und zumindest ein bisschen Umsatz mit Passanten generieren. Welche Bude wo öffnen darf, bestimmt das Los. Nach zwei Wochen rückt der nächste Schausteller nach. Das Nachsehen aber haben vor allem die großen Fahrgeschäfte, die viel Platz brauchen und massenhaft Besucher anziehen: In Hamburg verweigerte das Bezirksamt das Aufstellen eines Riesenrades aus Hygienegründen. Hilfspakete der Regierungen für die Schausteller oder Künstler gibt es derzeit noch immer nicht. Varieté, Zirkus, Schauspiel oder der Rummel sind eben nicht systemrelevant.