Der Bundestag muss den Skandal um die Dax-Firma Wirecard durchleuchten
Der Absturz des Dax-Unternehmens Wirecard ist ein Wirtschaftskrimi der ganz besonderen Art. Der kometenhafte Aufstieg des elektronischen Zahlungsdienstleisters an der Börse hatte die Anleger zunächst ebenso verzückt wie die Politik. Doch es war ein Spiel mit der Illusion vom schnellen Geld. Eine märchenhafte Wachstums-Story, die mit Scheingeschäften und Bilanz-Manipulationen erkauft wurde. Am Ende fehlten fast zwei Milliarden Euro, Endstation Insolvenz.
Der Skandal kam aber keineswegs wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Die Politiker hatten sich Sand in die Augen streuen lassen. Die Finanzaufsichtsbehörde Bafin agierte bestenfalls im Schongang. Die Bilanzprüfungsfirma EY schaute bei Wirecard mehr weg als hin.
Am Anfang hatten viele in Deutschland den Traum, mit Wirecard endlich über einen Global Player zu verfügen. Und das in einer digitalen Zukunftstechnologie, in der Amerikaner und Chinesen den Ton angeben. Dieser Wunsch nach Größe in einem Geschäftsfeld, in dem die Europäer bislang ein Mauerblümchendasein gefristet haben, hat etliche geblendet.
Anzeichen, dass irgendetwas falsch lief, gab es genug. Die Deutsche Prüfstelle für Rechnungslegung (DPR), die Bilanzen von kapitalmarktorientierten Firmen durchleuchtet, hatte den Wirecard-Konzernabschluss von 2005 beanstandet. Begründung: Firmenübernahmen seien mangelhaft ausgewiesen worden. 2015 durchsuchte die Staatsanwaltschaft München im Zuge eines Geldwäsche-Rechtshilfeersuchens für US-Behörden Geschäftsräume von Wirecard. Im Januar 2019 schrieb die britische Wirtschaftszeitung „Financial Times" über einen Wirecard-Manager, der in Singapur Verträge gefälscht haben soll.
Hat diese Vorwürfe und Berichte in Berlin niemand zur Kenntnis genommen? Wie stand es um die Kontrolle durch Behörden und Ministerien? Das trifft an erster Stelle auf Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD) zu. Er war bereits seit dem 19. Februar 2019 darüber informiert, dass die Bafin den Fall Wirecard „wegen des Verdachts des Verstoßes gegen das Verbot der Marktmanipulation" untersucht.
Die Bafin untersteht der Rechts- und Fachaufsicht des Finanzministeriums. Hätten bei Scholz nicht sämtliche Alarmglocken schrillen müssen? Warum hat er bei den Ermittlungen nicht mehr Dampf gemacht? Auch das von Peter Altmaier (CDU) geführte Wirtschaftsministerium muss sich unbequeme Fragen stellen lassen. Es hat bei der Aufsicht über die Bilanzprüfungsfirmen im Fall Wirecard möglicherweise geschlampt.
Unverständlich aber auch, warum Bundeskanzlerin Angela Merkel bei einer China-Reise Anfang September 2019 offenbar ein gutes Wort für Wirecard eingelegt hat. Es ging um den Markteintritt des Unternehmens in Fernost, für den Merkels Wirtschaftsberater Lars-Hendrik Röller „weitere Flankierung" zugesagt hatte. Dass sich die Kanzlerin für deutsche Betriebe im Ausland einsetzt, geht in Ordnung – aber für die bereits damals als windig geltende Wirecard? Und wie steht es eigentlich mit dem Informationsaustausch zwischen Ministerien, Behörden und Kanzleramt?
In der Rückschau betrachtet liegt dem Fall Wirecard ein kollektives Versagen zugrunde. Das muss bei der Sondersitzung des Bundestags-Finanzausschusses am 29. Juli unter Hochdruck aufgearbeitet werden. Scholz, Altmaier sowie die Vertreter der beteiligten Behörden haben den Auftrag, Licht ins Dunkel zu bringen.
Sollten dort nur Schuldzuweisungen verteilt werden, muss ein Untersuchungsausschuss des Bundestages her. Dass sich Union und SPD dagegen sperren, liegt auf der Hand. CDU und CSU wollen die Kanzlerin nicht beschädigen, die der Partei in Corona-Zeiten glanzvolle Umfragewerte beschert hat. Die Sozialdemokraten halten die Hand über Scholz, der im Sympathiewettbewerb um die Kanzlerkandidatur weit vorn liegt. Aber da nur ein Viertel aller Abgeordneten für einen Untersuchungsausschuss nötig sind, könnte eine konzertierte Aktion von Grünen, Linken und FDP reichen.
„Aufklärung, aber schnell!", heißt das Gebot der Stunde. Die Rufe nach einer internationalen Finanzaufsichtsbehörde zur Vermeidung künftiger Debakel à la Wirecard hören sich gut an. Aber es hieße, das Problem auf die lange Bank zu schieben. Nach dem Wirecard-Kollaps müssen nun die Hausaufgaben gemacht werden: Schwachstellen und Fehlerquellen aufdecken, Konsequenzen ziehen.