Stall ausmisten statt Bingo spielen: Guido Pusch bietet mit seinem Senioren-Bauernhof eine Alternative zum Altersheim an. Ist das die Zukunft der Pflege?
Klaus will nur noch weg. Weg von den frisch desinfizierten Fußböden, die wie im Krankenhaus riechen. Weg von den tratschenden Mitbewohnern, die ihm jeden Tag ihre Altersflecken präsentieren und diese für Hautkrebs halten. Weg von einem Ort, der sich selbst als „Senioren-Wohnanlage" beschreibt, aber von Wohnlichkeit ziemlich weit entfernt ist. Klaus, 78 Jahre alt, beidseitig Hüft-Implantate, hat genug vom Heim.
An einem kalten Morgen Ende Oktober 2019 sitzt der ehemalige Gas-Wasser-Installateur an einem rustikalen Holztisch, umringt von antiken Möbeln und herbstlicher Dekoration. Zusammen mit seiner Tochter ist er nach Marienrachdorf gefahren, einem Dorf in Rheinland-Pfalz, in dem ein neuartiges Pflege-Modell ausprobiert wird. Auf dem dortigen Senioren-Bauernhof können ältere Leute nicht nur Landluft schnuppern, sondern im Alltag mit anpacken. Ob Stall ausmisten, Hühnereier aufsammeln oder den Hof fegen: In Marienrachdorf können Seniorinnen und Senioren auch im hohen Alter noch zu Hobby-Landwirten avancieren, zumindest dann, wenn die Gesundheit mitspielt. Und der Wille.
Aus der Kälte tritt ein Mann in Arbeitskluft zu Klaus in die Stube: Guido Pusch, 46 Jahre, Gründer und Leiter des Senioren-Bauernhofs. „Du willst dir also alles ein paar Tage ansehen?", fragt Pusch – das Du gehört auf seiner Farm ebenso dazu wie das Alpaka und das Pony. Klaus nickt, auch wenn er nicht immer gleich alles versteht: Sein Hörgerät hat er im Pflegeheim gelassen, weil ihm davon die Ohren jucken. „Ist ja auch gar nicht verkehrt, wenn man nicht immer alles hört", sagt der ältere Mann und lacht. Aus dem Nachbarraum weht der Duft von frisch gebackenem Apfelkuchen herüber – Klaus, der Diabetiker ist, bekommt direkt Hunger.
Schnell kommen die beiden Männer ins Gespräch. „Ich war früher mal katholisch, bin jetzt aber evangelisch", erzählt der 78-Jährige. Seiner verstorbenen Frau zuliebe habe er die Konfession gewechselt. Überhaupt, die Frauen. Prompt fällt Klaus eine Anekdote aus seiner Bundeswehrzeit ein: „Da hatte ich einen richtig guten Kontakt zur Frau vom Spieß – aber nicht sexuell, nur platonisch." Nun ist es Guido Pusch, der grinsen muss. „Im Kopf bist du klar, mit dir kann man sich gut unterhalten", sagt der Landwirt und bittet seinen Gast in den Nachbarraum, in dem einige Mitbewohner das Mittagessen zubereiten. „Willste Kartoffeln schälen?", fragt Pusch, was Klaus aber ablehnt. „Ich regeneriere", sagt er und lacht.
Sie avancieren zu Hobby-Landwirten
Für Pusch sind solche Gespräche inzwischen Routine. Seit ein Fernsehteam da war, um das Leben auf dem Senioren-Bauernhof zu dokumentieren, quillt sein Postfach über. „Manchmal fahren ganze Busse vor, um sich bei uns umzusehen", sagt Pusch, der das Konzept auch aus der Not heraus entwickelt hat. Hauptberuflich leitet er einen Maschinenbau-Betrieb; der Hof mit seinen elf Rindern, drei Alpakas, 15 Gänsen und 60 Hühnern dient lediglich als Nebenerwerb. „Wir wollten dieses kleinbäuerliche Leben erhalten", sagt Pusch, doch genau das sei in den vergangenen Jahren zunehmend unrentabel geworden.
Die Idee, ältere Menschen aufzunehmen, brachte schließlich die Wende: „Jetzt ist es wieder möglich, mit den Tieren unter einem Dach zu leben", sagt Pusch und zeigt auf das liebevoll eingerichtete Wohnzimmer. Rund 700.000 Euro hat er nach eigenen Angaben investiert, um den Hof seniorengerecht umzubauen: ebenerdige Badezimmer, Treppenlifte, renovierte Aufenthalts- und Wohnräume. Für Pusch und seine Familie war es eine Wette auf die Zukunft: Wenn der Bedarf an ländlichen Senioren-WGs konstant bleibt – oder sogar steigt –, würden sie ihre Investition schon bald durch Mieteinnahmen refinanziert haben. Die Nachfrage sollte ihnen recht geben. Heute ist der Andrang so groß, dass es eine Warteliste gibt.
Insgesamt 17 Bewohner leben auf dem Senioren-Bauernhof, der Jüngste ist 56, die Älteste 95 Jahre alt. Fast alle leben in Einzelzimmern; die Hälfte ist wegen Demenz in Behandlung. Verglichen mit einem „normalen" Pflegeheim, in dem ein Platz schon mal mehrere Tausend Euro kosten kann, ist das Landleben auffallend günstig: Laut Pusch werden monatlich zwischen 1.350 und 1.550 Euro fällig, inklusive Miete, Pflege und Verpflegung (die Familie betreibt einen eigenen Pflegedienst, der ebenfalls auf dem Bauernhof arbeitet). Wie sich dieses Modell trägt? „Ganz einfach", sagt Pusch. „Die Leute brauchen keine goldenen Wasserhähne. Die packen lieber mit an."
Hof mit Insgesamt 17 Bewohnern
Nun ja. Spätestens beim Mittagessen zeigt sich, dass auch die heile Landwelt ihre Schattenseiten hat. „Hier wird ned gmeckert!", ermahnt ein Schild, das im Speisesaal hängt, vermutlich halb Witz, halb Ernst. Die anwesenden Senioren hält es jedenfalls nicht davon ab, über den soeben servierten Kartoffelauflauf zu schimpfen. „Versalzen" ist das erste Wort, das Guido Pusch entgegenschlägt, als er das Zimmer betritt. Eine ältere Dame, die gerade noch ein Nickerchen am Tisch gemacht hat, hebt den Kopf: „Nee, der war zu lasch." Und selbst Neuankömmling Klaus ist nicht mehr ganz so euphorisch wie noch wenige Stunden zuvor.
„Natürlich gibt es auch bei uns Unstimmigkeiten", räumt Pusch ein. Wenn jemand allzu resolut oder stark dement sei, ecke er bei der Gemeinschaft auch mal an. „Da heißt es dann ,Der passt nicht zu uns‘", erzählt Pusch. „Und ich antworte: ,So kann es uns allen irgendwann ergehen.‘" Meist reiche das, zumal die meisten schnell Anschluss fänden. Doch es gibt Ausnahmen. „Manche kommen durch ihre Demenz einfach nicht an. Da macht es nicht klick."
Klaus, der Neuankömmling, kann vom Landleben gar nicht genug bekommen. Er hat mit seiner Tochter in einer Pension übernachtet, weil im Senioren-Bauernhof noch kein Zimmer frei war. Zum Frühstück ist er nun wieder zurück. Wie ihm der Probetag gefallen hat? „Gut", sagt Klaus. „Hier wird man wenigstens ernst genommen." Viel mehr erzählt er nicht, weil er in ein Gespräch mit Maria (89) vertieft ist. Die Heimat, die Jugend, die gute alte Zeit. Und diese seltsamen Holzstäbe, die im Frühstücksraum an der Wand hängen. „Ist das Dekoration?", fragt Klaus. „Nee, das ist moderne Kunst", antwortet Maria. „Da kriegste heutzutage ‘nen Preis für."
Im Hof treffen sich nach dem Frühstück diejenigen, die in der Landwirtschaft helfen. Willy (82) holt das arthritische Pony aus dem Stall. Karl-Heinz (73) treibt die Gänse auf die Wiese. Gisela (83) geht am Stock, führt aber trotzdem ein Alpaka an der Leine. Und Martin? Der trägt nun Lederjacke und hilft denen, die sich nicht wie Rentner fühlen, aber manchmal eben doch an ihre Grenzen geraten. Ein Pfleger ist nicht in Sicht – ist das nicht gefährlich? Was, wenn das Alpaka durchgeht und Gisela mitreißt? Wenn Karl-Heinz die Gänse ausbüxen? Oder Willy auf dem matschigen Feld ausrutscht?
Rinder und Gänse direkt nebenan
Guido Pusch, der diese Fragen nicht zum ersten Mal hört, winkt ab. Im Altersheim mit seinen glatten, gepflegten Böden stürzten die Menschen sogar öfters als auf dem Kopfsteinpflaster in Marienrachdorf. „Weil die Leute hier eher auf sich achtgeben", ergänzt Pusch. Er erzählt von älteren Herren, die nichts lieber tun als bei ihm im Traktor mitzufahren. Von einer Bewohnerin, die noch immer ihr eigenes Auto hat. Und von Senioren, die mit dem Bus zum ICE-Bahnhof Montabaur fahren, um von dort ihre Enkel zu besuchen. Für diejenigen, die weniger mobil sind, kommen einmal pro Woche der Frisör und der Hausarzt auf den Hof.
Das ist die eine Seite des Landlebens – die Seite, die das Konzept des Senioren-Bauernhofs berühmt gemacht hat. Die andere Seite ist im Fernsehen nur selten zu sehen: Menschen, die so krank und geschwächt sind, dass sie nur selten an all den Aktivitäten teilnehmen können, die das Landleben bietet. Um kurz nach 11 Uhr betritt eine Pflegerin ein Zimmer: Flachbild-Fernseher, Ledersessel, Esstisch. An der Wand hängt ein überdimensioniertes Kreuz. Es riecht nach Leberwurst. Das Ehepaar, das hier wohnt, hat bis jetzt geschlafen. Die ältere Frau lächelt und wünscht einen guten Morgen, der Mann klagt über Schmerzen am ganzen Körper. „Aua! Aua!", ruft er, als die Pflegerin ihn aufrichtet. „Trink erst mal einen Schluck", antwortet sie. „Gleich geht’s besser."
Die Gänse, Schweine und Rinder sind von dem Ehepaar nur eine Treppe und wenige Schritte entfernt. Aufgrund ihres Zustandes können beide aber nicht mehr am Stallleben teilnehmen, innovatives Pflegekonzept hin oder her. „Wir nehmen bei uns keine Extremfälle auf", sagt Guido Pusch. In manchen Fällen, etwa bei der medizinischen Intensivpflege, stoße der Senioren-Bauernhof an seine Grenzen. „Wenn sich bei unseren Bewohnern die Gesundheit verschlechtert, können sie trotzdem bis zum Schluss bleiben", versichert Pusch. „Hier muss niemand gehen."
Die Bürokratie macht die Sache nicht leichter. Vier Verträge müssen die Bewohner abschließen, wenn sie in Marienrachdorf einziehen wollen: einen für die Miete, einen für Lebensmittel, einen für die 24-Stunden-Betreung und einen für den ambulanten Pflegedienst. Auch Guido Pusch muss allerlei Vorgaben beachten, vom Brandschutz bis zur Größe der Zimmer. „Paragraf fünf, Absatz eins LWTG", schießt es aus Pusch heraus. Das „Landesgesetz über Wohnformen und Teilhabe" kennt er mittlerweile auswendig, für ihn hat jedes Problem eine Lösung. Andere Landwirte haben offenbar größere Hemmungen: Seit im Jahre 2011 die ersten Senioren auf den Hof kamen, hat kaum jemand das Konzept kopiert – und das, obwohl die Nachfrage riesig ist.
In Marienrachdorf reist Neuankömmling Klaus schon am zweiten Tag ab, obwohl er ursprünglich drei Tage bleiben wollte. „Mehr brauche ich nicht, ich habe mich entschieden", sagt der 78-Jährige. Und diese Entscheidung klingt ziemlich eindeutig: „Entweder ich gehe hierhin oder nirgendwo hin." Die Ämter, die Genehmigungen, das Organisatorische: Es werden noch Monate vergehen, bis Klaus auf dem Senioren-Bauernhof einziehen kann. Guido Pusch hat ihm Mut gemacht, dass bis dahin auch sein Zimmer bezugsfertig ist: Der neue Anbau wird gerade fertiggestellt.