In der kommenden Spielzeit fahren die meisten großen Theater in Berlin auf Sicht. Niemand weiß, ob bei steigenden Infektionszahlen wieder Masken und Mindestabstand vorgeschrieben werden. Jedenfalls lassen sie Stücke mit intensivem Körperkontakt erst einmal weg.
plötzlich war sie da, die Corona-Pandemie, auch in Berlin. Erst ein Zögern des Senats und dann doch der unvermeidliche Lockdown. Aus Spielplänen wurden Ersatzspielpläne, und die Schließung der Theater dauert länger als zunächst gedacht. Die Schockstarre hielt glücklicherweise nicht lange an. Beherzt fassten die Intendanten in ihre Archive, um frühere Premieren als Streams erneut zu präsentieren. Einstige Sternstunden waren darunter wie die Inszenierungen von Peter Stein an der Berliner Schaubühne. Die „Sommergäste" wärmten schon im April, auch „Die Drei Schwestern" wurden erneut lebendig.
„Ich streame – also bin ich" sagten sich wohl die Intendanten. Eine wahre Streaming-Welle ergoss sich über das Publikum, und das hatte die Qual der Wahl. Doch nicht alles, was aus den Schubladen hervorgekramt wurde, war von überragender Qualität. Was nicht weiter wundert. Denn nicht jede Premiere ist ein großer Wurf mit Langzeitwirkung. Auch waren die damals hergestellten Videos als Dokumentation und nicht als Fernsehproduktion gedacht. Die Theater mit ihren Ensembles wollten aber ihre Fans bei der Stange halten. Wie sich nach einigen Wochen herausstellte, hat das bestens funktioniert. Viele sind „ihren" Häusern treu geblieben.
Manche Intendanten hatten kurz nach Beginn der Restriktionen noch Illusionen und hofften, einige Stücke vor kleinerem Publikum mit entsprechenden Abstands- und Hygienemaßnahmen aufführen zu können. Anders Oliver Reese, Chef vom Berliner Ensemble (BE). Als Erster sagte er klipp und klipp, dass Corona das Aus für die laufende Spielzeit bedeute, und so kam es.
Vor wenigen Menschen zu spielen ist teurer als gar nicht zu spielen
Sein Kollege, Schaubühnen-Intendant Thomas Ostermeier, nahm kein Blatt vor den Mund. Vor nur wenigen Menschen zu spielen sei wegen des nun erforderlichen Aufwands teurer als gar nicht zu spielen. Mit ausgedünnten Reihen könnte sein Haus höchstens ein Zehntel des Üblichen einnehmen. „Es trägt sich ökonomisch nicht", so sein Fazit. Nicht nur die Schaubühne blieb geschlossen. Selbst der alte Theaterhase Dieter Hallervorden, der zunächst deutlich opponiert hatte und sogar Geld in die Hand nehmen wollte, musste mit seinem privat geführten Schlosspark Theater seine Pläne begraben. Selbst Proben waren ja anfangs untersagt.
Das Blatt wendete sich, als die Corona-Infektionen deutlich zurückgingen. Ab 11. Mai preschten einige lockerungsfreudige Bundesländer vor und gestatteten den Theatern unter Auflagen die Wiedereröffnung. Berlins Kultursenator Klaus Lederer blieb jedoch hart und vorordnete den Shutdown bis 31. Juli, dem Ende der Spielzeit.
Oliver Reese vom BE hatte schon Mitte Mai den Saal umbauen und deutlich leer räumen lassen. Von 700 Stühlen blieben nur 200 stehen. Die entfernten wurden aufgearbeitet und können später wieder in die Reihen eingefügt werden. Entstanden sind „Special Seats" für Singles und doppelte Sitze für Paare. Das war aber nicht alles. Als Glückspilze erwiesen sich die Theater, die nach draußen ausweichen konnten. So baute das Berliner Ensemble ein Hof-Theater auf, und am
9. Juni wurde es erstmals bespielt.
Ganz locker mit grauen Jeans und blauem Hemd begrüßte Reese verschmitzt lächelnd die „Premieren-Gäste" in seinem Hof. Geboten wurde die Generalprobe von „Bussi BaBaal – einmal Baal To Go". „Wir haben Glück, dass wir hier genug Platz haben, um so etwas machen zu können", strahlte Reese beim Interview. „Es ist nur ein Amuse-Gueule, ein Gruß aus der Küche und ein Geschenk fürs Publikum", fügte er hinzu.
Drei Wochen lang, von Mittwoch bis Sonntag, waren abends jeweils fünf rund einstündige Aufführungen zu erleben, die sich Ensemblemitglieder ausgesucht hatten. An den Montagen startete der Online-Ticketverkauf. Jeder und jede hat „die Chance, dreimal mit dabei zu sein", sagte Reese. Das war zu optimistisch. Denn die Nachfrage explodierte. Nur wer blitzschnell war und Glück hatte, ergatterte eines der 50 Tickets.
Das BE reduzierte die Bestuhlung
Den ersten „Gruß aus der Küche" servierte Stefanie Reinsperger, und selbst bei dieser Powerfrau hatte die dreimonatige Spielpause Spuren hinterlassen. Ob sie aufgeregt sei? „Ich bin sehr, sehr, sehr, sehr aufgeregt", platzte es aus ihr heraus. „Diese drei Monate waren eine so ungewöhnlich lange Zeit, das war nichts Normales, da kamen mir sogar Zweifel, ob ich alles so wie bisher wieder leisten kann. Das war noch viel schlimmer als der Wiederbeginn nach der üblichen Sommerpause". Doch sie hat sich nicht unterkriegen lassen. „Ich habe mir zwei Stücke genommen und sie daheim laut gelesen, um meine eigene Stimme zu hören." Für ihren Beitrag zum Hof-Theater hatte sie Bertolt Brechts „Baal", auf eine Stunde gekürzt und es „BaBaal – einmal Baal To Go" genannt. Die temperamentvoll dargebotene Leicht-Version wurde ein voller Erfolg.
Wie wird es in der nächsten Spielzeit weitergehen? „Wir müssen anders hören und anders sehen. Relativ kurze Stücke müssen es sein, zweieinhalb Stunden maximal, denn es gibt keine Toilettenpause. Das würde wegen der Abstandsbedingungen viel zu viel Zeit in Anspruch nehmen", so Reese. Wie aber soll Frank Castorf, der Spezialist für sechs- oder siebenstündige Aufführungen, der am BE eine neue Heimat gefunden hat, damit klarkommen? „Das muss er selbst regeln", meinte Reese trocken. Deutlicher fiel seine Antwort zur Neuinszenierung von Bertolt Brechts „Dreigroschenoper" durch Barrie Kosky aus, den Chef der Komischen Oper. „Die Premiere ist erst am 21. Januar 2021, und wir hoffen, dass dann vielleicht wieder der Normalbetrieb möglich ist."
Er selbst inszeniert die Uraufführung von „Gott", ein Stück von Ferdinand von Schirach. Zeitgleich mit dem Düsseldorfer Schauspielhaus sollte das Werk im April Premiere feiern. Coronabedingt ist es auf den 10. September verschoben worden. Darin geht es um einen alten Menschen, der nach dem Tod seiner Frau keinen Lebenswillen mehr besitzt und die Hausärztin um Beihilfe zum Suizid bittet, was sie jedoch ablehnt. Ein weiterer Titel lässt ebenfalls aufhorchen. Ab 4. September steht „Gott ist nicht schüchtern", von Olga Grjasnowa auf dem Programm.
Am Deutschen Theater (DT) hatte man mit „Die Pest" nach dem Roman von Albert Camus das Werk der Stunde im Programm. Denn das Ein-Mann-Stück hatte im November 2019 in der Box des DT Premiere. Die Fassung von András Dömötör und Enikő Deés wurde vor allem dank Božidar Kocevski, der den Arzt Bernard Rieux verkörperte, ein Erfolg. Sie streamte das Theater zunächst in Top-Qualität. Ab 10. Juni wurde es draußen vor den Theaterbauten gespielt, aus Abstandsgründen für 75 Zuschauer. Doch genau wie beim Stream war das lebhafte Spiel von Kocevskis Augen nicht zu erkennen. Die simple Abfilmung von Stücken genüge nicht, meinte Intendant Ulrich Khuon. Diese neue Kunstform müsse eigene Wege gehen und eine eigene Form finden.
Romeo und Julia mit Mundschutz?
Im DT ließ Khuon keine Stühle ausräumen. „Dann muss ich sie später ja wieder hineintragen lassen", so seine Begründung. Lieber sollte, solange die Abstandswahrung nötig sei, das Publikum entsprechend locker platziert werden. Im Saal stünden zunächst 135 Plätze zur Verfügung, in den Kammerspielen 50. Sollten die Abstände von den Behörden auf einen Meter gesenkt werden, ergäbe das fast 200 Plätze fürs große Haus sowie 60 bis 70 für die Kammerspiele, zumal die Lüftung in beiden Sälen optimal sei. Wie seine Kollegen setzt Khuon auf relativ kurze Stücke. Ab 13. August werden zunächst „Transit" und „Tschick" Open Air auf dem Vorplatz des DT gespielt, beide sind bereits ausverkauft, eventuell gibt es Restkarten an der Abendkasse. Für Gutes und Kurzes ist vor allem René Pollesch bestens bekannt. Am 29. August eröffnet das DT die neue Saison mit der Uraufführung seines neuen Stücks „Melissa kriegt alles."
Wie geht es weiter? In der Spielzeit 2020/21 plant die Volksbühne acht Premieren. Mit „Iphigenie. Traurig und geil im Taurerland" und der „Orestie" macht man Anleihen bei Euripides und Aischylos. Das Gorki-Theater teilt mit, dass es weniger Zuschauer in weniger Vorstellungen geben wird. „Statt des gewohnten Repertoires stellen wir das Programm um: wir konzentrieren uns auf die Neuproduktionen der Spielzeit, beginnend mit „Berlin Oranienplatz" von Hakan Savaş Mican am 28. August und der Uraufführung „Schwarzer Block" von Kevin Rittberger am 5. September."
Das Schlosspark Theater startet mit dem Musical „Monty Python’s Spamalot – Die Suche nach dem heiligen Gral". Am 28. August folgt „Gottes Lebenslauf", übersetzt von Dieter Hallervorden. Die Schaubühne bringt erst am 15. Oktober die Uraufführung „Everywoman" und am 2. Dezember „Michael Kohlhaas".
Insgesamt fahren die meisten Intendanten noch auf Sicht und fragen sich, ob bei steigenden Infektionszahlen wieder Maskenpflicht für alle angeordnet wird. Shakespeares „Romeo und Julia" mit Mundschutz schmusend, ist jedenfalls schwer vorstellbar. Den sehr körpernahen „Macbeth" von Michael Thalheimer wird das BE nicht bringen. Berlins Theater und ihre Ensembles werden jedoch, staatlich finanziert und von finanziellen Hilfsmaßnahmen unterstützt, sicherlich die Kurve kriegen.
Selbst in den Ferien müssen die Berliner und ihre Gäste nicht darben. „Geht nicht, gibt’s nicht", verkündeten kürzlich Bille und Stefan Behr vom freien Theater Anu. Auf dem Tempelhofer Feld spielen sie vom 5. bis zum 8. und vom 12. bis zum 15. August jeweils ab 21.30 Uhr ihr Erfolgsstück „Die Große Reise" und versprechen „Leben(s)träume im Lichtermeer". Die Tickets kosten 28 Euro und sind damit auf alle Fälle deutlich preiswerter und risikoärmer als ein Ballermann-Abend auf Mallorca.