Bei jedem Kuss wechseln Millionen Bakterien den Besitzer
Leider geraten in Corona-Zeiten andere gesundheitliche Risiken etwas in den Hintergrund. Das wurde uns jetzt anlässlich eines Zahnarztbesuchs so richtig bewusst. Zur Verdrängung von Fluchtgedanken greifen wir nämlich im Dentisten-Wartezimmer gerne zu einschlägigen Fachzeitschriften. Von der Lektüre sind wir dann meist derart hingerissen, dass unser Gehör leidet und wir meist erst den dritten Aufruf zur Behandlung wahrnehmen. Was wir da kürzlich in einem der tollen Medizin-Journale lesen mussten, setzte dem alltäglichen medialen Corona-Bombardement die Krone auf: Karies ist ansteckend! Deshalb sollten Eltern weder einen heruntergefallenen Schnuller ihrer Kleinen ablutschen noch an deren Breilöffel die Genießbarkeit der Mahlzeiten überprüfen.
Nach kurzer Überprüfung unseres Langzeitgedächtnisses konnten wir da in eigener Sache Entwarnung geben: Weder der Gummigeschmack des Schnullers noch die pampige Konsistenz eines Babybreis hat uns kulinarisch angetörnt, sodass wir unseren Kindern und Enkeln ihr Geschmackserlebnis ungeteilt überließen und unsere Kariesbakterien für uns selbst behielten. Viel schlimmer traf uns ein weiterer Befund von Hygiene-Experten: Bei einer „Knutsch-Studie" mit 21 Paaren ermittelten die Wissenschaftler, dass bei jedem mindestens zehn Sekunden dauernden Kuss 80 Millionen Bakterien ausgetauscht werden!
Da läuft einem nicht gerade das Wasser im Munde zusammen, sondern eher das kalte Grausen den am Kussvorgang meist unbeteiligten Rücken hinunter. Nach einem intensiven Kuss fanden die „Mund-Höhlenforscher" im Speichel jedes Knutschers ein Drittel mehr Bakterien als vorher. Da viele dieser Bakterien leider imstande sind, Karies hervorzurufen, kann also selbst ein meist gut gemeinter Kuss schlimmstenfalls zu dentalem Totalverlust führen.
Nicht nur, dass wir jetzt unseren schon früh Gebiss tragenden Großvater mit anderen Augen sehen müssen: Wer war wohl seine Infektionsquelle, da doch unsere Oma zeitlebens nie Kariesprobleme hatte? Nein, wir sehen uns nun gezwungen, dem weiblichen Geschlecht –
zumindest in oberen Regionen – noch reservierter gegenüberzutreten als wir dies in solch schweren Zeiten ohnehin schon tun. Die Vorstellung, beim Küssen Millionen Karies erregender Bakterien auszutauschen und später bei jedem zahnlosen Biss ins milchgetunkte Schlabber-Brötchen an all unsere früheren Eroberungen erinnert zu werden, vertreibt den letzten Rest an Erotik aus unseren durch Corona schon genug belasteten Zweierbeziehungen.
Es hat uns zwar etwas beruhigt, dass die Zahnmediziner in ihrem Fachmagazin darauf hinweisen, dass eine „möglichst vielfältige Bakteriengemeinschaft im Mund" durchaus auch Vorteile haben kann und es sogar sinnvoll sein könne, viel zu küssen. Allerdings machen sie die ernüchternde Einschränkung, dass man sich dafür nur Partner mit gesunder Mundflora suchen sollte. Woher aber nehmen, wenn man altersbedingt ohnehin kaum noch echte Auswahlmöglichkeiten hat?
Einen kleinen Hoffnungsschimmer gibt es: Dentisten bieten einen Kariesbakterientest an. Vielleicht können Liebespaare ja dann nach gegenseitiger Einsichtnahme in ihre Unbedenklichkeitsbescheinigungen auch künftig noch im Kuss dahinschmelzen, ohne dass ihr Zahnschmelz ihnen prompt nacheifert.
Einen Haken hat diese Kuss-Prophylaxe allerdings: Die Mundanalyse kostet 60 bis 70 Euro und wird nur bei Privatversicherten von deren Kasse übernommen. Ansonsten muss man dafür neben dem Mund auch den Geldbeutel aufmachen. Droht uns also jetzt auch noch beim Küssen eine Zweiklassen-Gesellschaft? Können fortan nur noch die Besserversicherten oder Gutbetuchten frei drauflos knutschen?
Besorgt durch solche Wartezimmerlektüre schlichen wir dann doppelt ängstlich ins Behandlungszimmer. Als der Arzt dort seine motorisierten Quälgeister surren ließ, stand für uns jedenfalls eins fest: Da beim Kuss der Zwei-Meter-Abstand verfahrensbedingt kaum einzuhalten ist, werden wir Kassenpatientinnen künftig nur noch mit Mundschutz küssen!