Lebendige, sich exponentiell vermehrende und aus Bakterien hergestellte Baumasse könnte künftig die Branche revolutionieren. Sie könnte einen klimafreundlichen Ersatz für klassische zementäre Werkstoffe darstellen, die weltweit Unmengen von CO2-Emissionen verursachen.
In Zeiten des fortschreitenden Klimawandels sieht sich die global boomende Baubranche immer heftigeren Vorwürfen ausgesetzt. Die Betonindustrie wird für schätzungsweise sechs bis neun Prozent des umweltschädlichen CO₂-Ausstoßes verantwortlich gemacht. Das Treibhausgas wird bei der Aushärtung des Betons freigesetzt, zudem ist der Energieverbrauch bei der Herstellung von Zement in riesigen Drehöfen aus Kalkstein und Ton gewaltig, wobei zusätzliche CO₂-Mengen in die Atmosphäre gelangen. Unter dem wachsenden Druck der Klimaschützer und um restriktiven gesetzlichen Bestimmungen vorzubeugen, hat es in den letzten Jahren verschiedene von Wissenschaftlern entwickelte Versuche gegeben, Beton mithilfe von Bakterien umweltfreundlicher zu machen. Allerdings war der Bakterienanteil bei den diversen Betonmischungen bislang meist nicht sonderlich hoch, egal ob es sich um ein Beton-Projekt des niederländischen Start-ups Green Basilisk, bei dem die Organismen dank beigefügter Nährstoffe gewisse Material-Selbstheilungskräfte entwickeln konnten, oder um die Betonfliesen des US-Unternehmens Bio-Mason gehandelt hat. Dabei wurden die winzigen Lebewesen mit Harnstoff gefüttert, damit sie das gewünschte Kalziumkarbonat, den Hauptbestandteil konventionellen Betons, herstellen konnten.
Forscher der Universität von Colorado Boulder rund um Prof. Wil Srubar von der Fakultät für Bau-, Umwelt- und Architekturwesen sind nun einen entscheidenden Schritt weitergegangen und haben ein neuartiges Material entwickelt. Bei diesem sollen in Sand eingebettete Bakterien dank Hydrogel-Nährstoff und dem Wachstum zusätzlich beschleunigender Gelatine einen umweltfreundlichen, betonähnlichen und ebenso harten Baustoff herstellen. Bei dessen Produktion wird zusätzlich das Treibhausgas CO₂ verbraucht und in Sauerstoff umgewandelt. Ihre Innovation haben sie jüngst im Fachmagazin „Matter" vorgestellt. Das Ganze funktioniert relativ einfach. Zunächst wird ein Gerüst aus Sand und Hydrogel hergestellt. Auf dieses Gerüst werden anschließend Cyanobakterien (auch als Blaualgen bekannt) vom Typ Synechococcus angesiedelt, die von der gelartigen Masse, unter die auch noch handelsübliche Gelatine als Prozessbeschleuniger beigemischt sein kann, mit Nährstoffen und Feuchtigkeit versorgt werden. So können sie unter Betreibung von Photosynthese samt Absorption von CO2 ihr Werk in Angriff nehmen: Kalziumkarbonat erzeugen und Mineralisierungsprozesse (vergleichbar der Bildung von Muschelschalen) anstoßen. Die Sandpartikel werden dabei nach und nach verklebt und zu einer festen Masse zusammengefügt. Nach einigen Tagen ist ein gebrauchsfertiger Ziegelstein das verblüffende Ergebnis. Nur die grünliche Farbe ist ziemlich ungewöhnlich, sie ist dem Chlorophyll aus der Photosynthese geschuldet, verblasst aber nach dem Trocknen. „Es sieht wirklich aus wie ein Frankenstein-Material", so Prof. Srubar gegenüber der „New York Times". Srubar zog beim Herstellungsprozess Parallelen zu etwas Bekanntem: „Das funktioniert ganz ähnlich wie die Herstellung von Rice-Crispy-Süßigkeiten. Man härtet die Marshmallows, indem man harte Partikel hinzufügt."
Noch ist das Material nicht massentauglich
Laut den Forschern, deren Arbeit vom US-amerikanischen Verteidigungsministerium finanziell unterstützt wurde, weisen die neuartigen Backsteine ungefähr die gleiche Festigkeit auf wie solche aus herkömmlichem Mörtel. Und sie sind angeblich besonders langlebig. Ein weiterer großer Vorteil ist die Reproduzierbarkeit des Materials. „Unsere Studie stellt die konventionellen Methoden infrage, mit denen Baustoffe bislang erzeugt werden", so Wil Srubar. Selbst in fertigen Ziegelsteinen sind weiterhin lebende Bakterien enthalten. Was die Wissenschaftler dazu genutzt hatten, Blöcke zweizuteilen und nach Zufügung von neuem Sand und den gleichen Nährstoffen wie von Zauberhand wieder komplette Steine zu erhalten. Nach 30 Tagen, optimaler Luftfeuchtigkeit von mindestens 50 Prozent und gewissermaßen drei Ziegelsteingenerationen waren noch immer neun bis 14 Prozent der Bakterien lebendig. „Das ist deutlich mehr als die Werte, die für in zementartigen Materialien eingeschlossene Mikroorganismen bisher berichtet wurden", so Wil Srubar. Kalkproduzierende Bakterien wurden gelegentlich schon zu klassischem Zement beigegeben, um Risse, Brüche oder Beschädigungen an Bauwerken zu beheben. Allerdings lag dabei die Bakterien-Überlebensquote laut Prof. Srubar lediglich bei einem Prozent. Der Selbstheilungsprozess funktioniert natürlich noch viel besser mit dem neuen Bio-Material. „Wir wissen", erläutert er, „dass Bakterien exponentiell wachsen. Das ist ein Unterschied zum Beispiel zur Herstellung eines Blocks mit einem 3D-Drucker. Wenn wir unsere Materialien biologisch wachsen lassen können, dann können wir sie in exponentiellem Maße herstellen." Durch gezielte Anpassung von Temperatur und Feuchtigkeit können die Bakterien zur Arbeit angeregt oder in einen Dämmerzustand versetzt werden. Werden sie schlafend gehalten, führt das zu einer Erhöhung der Materialstabilität, werden sie aktiviert, können sie wachsen und beispielsweise Reparaturaufgaben übernehmen.
Allerdings dürfte es noch geraume Zeit dauern und weitere Entwicklungen brauchen, um das neue Material massentauglich zu machen. Ein Problem ist ein unbedingt nötiger Grad an Luftfeuchtigkeit, damit die Bakterien nicht austrocknen können. Wil Srubar möchte daher die Mikroben so modifizieren, dass sie auch in niederschlagsarmen Regionen arbeiten und überleben können. Dennoch sieht er auch jetzt schon großes Potenzial für seinen „lebenden Beton" in der Baubranche, zumal der Sand auch durch Abfallmaterialien wie gemahlenes Glas oder recyceltem Beton ersetzt werden kann.
Er könne sich durchaus vorstellen, dass künftig auf Baustellen fertige Säcke angeliefert werden, die alle Materialzutaten in getrockneter Form enthalten. Vor Ort müsste der Mischung dann nur noch etwas Wasser hinzugegeben werden, um danach mit der Errichtung mikrobieller Häuser zu beginnen. „Die Natur hat herausgefunden, wie viele Dinge clever und effizient gemacht werden können", so Prof. Srubar. „Wir müssen nur besser hinsehen."
Selbst im Weltraum bei der Besiedlung fremder Planeten wie dem Mars könnte dieser Beton die optimale Lösung sein: „In kargen Landschaften machen sich solche Baustoffe sehr gut, weil sie hauptsächlich die Sonne zum Wachstum nutzen und nur wenig Material von außen benötigen", so Srubar. „Ich glaube nicht, dass wir eines Tages säckeweise Zement mit auf den Roten Planeten bringen – aber biologische Organismen möglicherweise schon." Zudem machen sich er und seine Kollegen schon Gedanken über andere Bakterienstämme, die in einer Bausubstanz neue Funktionen wie die Absorption giftiger Substanzen aus der Luft oder das Anzeigen struktureller Schwachstellen durch Fluoreszenz übernehmen könnten.