Mit der coronabedingten Verspätung von 112 Tagen ist die Formel 1 mit drei Rennen in drei Wochen auf hoher Drehzahl in die Saison 2020 gestartet. Fazit vor dem Doppelschlag am 2. und 9. August in Silverstone: Mercedes mit drei Siegen auf dem Weg zum Gipfel, Ferrari im Abgrund.
Was ist bloß mit Ferrari los? Diese Frage haben sich nach den ersten drei Saisonrennen nicht nur die Fans und Experten gestellt. Selbst die Verantwortlichten des ehemals ruhmreichen Traditionsrennstalls tun sich schwer mit einer Antwort. Vor den beiden Rennen in Silverstone kommen Ferrari-Pilot Sebastian Vettel und RTL-Experte Nico Rosberg übereinstimmend zu der Erkenntnis: „Mercedes fährt nicht auf einem eigenen Planeten, sondern in einem ganz anderen Universum." Blicken wir auf den Saisonstart mit zwei Rennen in Österreich und den Ungarn-Grand-Prix zurück.
Der kuriose Geister-Auftakt auf dem Red-Bull-Ring in Spielberg wurde zu einem Desaster für Sebastian Vettel. Als Elfter gestartet, verbremste sich der Ferrari-Star im Kampf gegen den Spanier Carlos Sainz und krachte in Runde 31 in dessen McLaren, fiel auf den 19. und vorletzten Platz zurück. „Ein Anfängerfehler, wie er nur einem Nachwuchsfahrer passieren sollte", höhnte Sky-Experte Ralf Schumacher (44). Nico Rosberg (35) kritisierte seinen Landsmann mit einer „eklatanten Fehleinschätzung". Vettel selbst klagte über einen „Wurm im Auto. Ich hatte unheimlich Probleme, auf der Strecke zu bleiben. Ich muss froh sein, dass ich mich nur einmal gedreht habe." Dass sein peinlicher Dreher ein unrühmlicher Kontakt mit seinem Ferrari-Nachfolger Carlos Sainz war, machte das Desaster perfekt. Am Ende wurde Vettel Zehnter (ein WM-Punkt) und Vorletzter vor Neuling Nicholas Latifi (Kanada) im Williams. „Sebastian muss jetzt ganz von unten anfangen, die vier WM-Titel zählen nichts mehr", mahnte Rosberg, Mercedes-Weltmeister von 2016, in seiner Spielberg-Analyse. Ferrari-Stallrivale Charles Leclerc trieb den „lahmen Gaul" von Startplatz sieben mit Klasse und viel Glück immerhin auf Rang zwei (18 WM-Punkte). Und das, obwohl sein Dienstwagen alles andere als wettbewerbsfähig ist. Nur elf der 20 Piloten kamen in dem chaotischen Auftaktrennen mit drei Safety-Car-Phasen ins Ziel. Dieses Ziel erreichte Mercedes-Pilot Valtteri Bottas mit einem blitzsauberen Start-/Zielsieg souverän im Schongang als Erster. Sein Weltmeister-Teamkollege Lewis Hamilton wurde nur Vierter hinter dem Sensations-Dritten Lando Norris im McLaren. Hamilton wurde zunächst von Startplatz zwei auf Rang fünf strafversetzt, da er im Qualifying Gelbe Flaggen ignoriert hatte. Nach dem Rennen, das er eigentlich als Zweiter beendet hatte, wurden dem Champ dann auch noch fünf Strafsekunden aufgebrummt, weil er in den Red Bull von Alex Albon gekracht war – daher am Ende nur Platz vier.
„Eklatante Fehleinschätzung"
„Viele Zwischenfälle, Spektakel, Drama, Spannung: Die Formel 1 hätte sich keinen besseren Saisonauftakt wünschen können", urteilte die britische Zeitung Guardian. Gnadenlos rechnete das Boulevardblatt „Daily Mail" mit Sebastian Vettel ab: „Vettel zeigt, warum Ferrari ihn loswerden will. Er startete in die Saison und musste sich beweisen, nachdem Ferrari ihm für 2021 zugunsten von Carlos Sainz den Laufpass gegeben hat. Er rannte bloß seinem Nachfolger hinterher. Ein miserabler Saisonstart für den Deutschen, der einen traurigen Schatten eines viermaligen Weltmeisters abgibt." Starker Tobak. Doch der Tobak sollte für Ferrari und seine beiden Piloten noch stärker, deftiger werden.
Nur acht Tage später, Rennen zwei, der „Große Preis der Steiermark", ebenfalls auf dem Red-Bull-Ring in Spielberg: Ferrari wird zur Lachnummer und verkommt zum Scherzartikel. Und Sebastian Vettel wieder mittendrin. Hauptdarsteller aber war sein Stallrivale Charles Leclerc. Das Rennen war noch keine halbe Minute alt, da erspähte Ferrari-Kronjuwel Leclerc, nur von Rang 14 gestartet, eine Lücke in einem Pulk, in dem Vettel nach müdem Start von Platz zehn steckte. Doch die Lücke innen war zu klein, um durchzustechen. Bei dem unbedachten Manöver in Kurve drei kam, was kommen musste: Es knallte – und ausgerechnet mit dem Teamkollegen. Beim Rammstoß mit Vettels Ferrari hob Leclerc über dessen Hinterrad und rasierte ihm den Heckflügel ab. Leclerc hatte sich den Unterboden ruiniert. Beide Boliden waren wenige Runden später fahruntauglich. Früher Feierabend für die zwei roten Piloten.
„Ich habe nicht damit gerechnet, dass Charles etwas versucht. Ich denke nicht, dass da Platz war", beschrieb Vettel die Kollision. „Charles hat sich bei mir entschuldigt, dass er Mist gebaut hat. Damit ist der Fall für mich erledigt. Ich bin nicht nachtragend", hakte Vettel das Thema ab. Frustriert und bedröppelt kroch Leclerc bei Vettel zu Kreuze: „Ich habe einen sehr schlechten Job gemacht und das Team im Stich gelassen. Seb hat nichts falsch gemacht. Ich war übermotiviert, war zu heiß darauf, in der ersten Runde Plätze gutzumachen. Ich habe die Situation falsch eingeschätzt." Ferrari-Teamchef Mattia Binotto sprach „vom schlimmsten Ende für uns. Es ist schmerzhaft. Es gibt nicht viel zu sagen." Mercedes-Sportchef Toto Wolff hatte da mehr zusagen. „Wir brauchen Ferrari vorne im Kampf und wünschen uns ein starkes Team. Ferrari ist eine unglaubliche Marke mit hart arbeitenden Menschen", zeigte der „gute Wolf(f)" sogar Mitleid mit den Konkurrenten.
„Ich war übermotiviert"
Ohne Mitleid, sondern gnaden- und erbarmungslos, war der Aufschrei der italienischen Presse. „Rotes Desaster. Leclerc versenkt Vettel mit einem verrückten Manöver und stürzt Ferrari in eine tiefe Krise. Maranello erlebt einen Albtraum", schrieb die „Gazzetta dello Sport". Der „Corriere della Sera" meinte: „Vom Phänomen zum Problem: Leclerc, ein Pilot mit Talent und Intelligenz, verliert den Kopf und reißt die ganze Scuderia mit sich in den Abgrund." Für den „Corriere dello Sport" „explodiert bei Ferrari die Piloten-Krise". „Tuttosport" bezeichnete „Ferrari als ein Wahnsinn und orientierungslos". Für die „La Republica" „versinkt Ferrari in dunkler Nacht, während Mercedes wie immer feiert. Nach Bottas Auftaktsieg war jetzt Hamilton an der Reihe." Der Vollständigkeit halber: Mit Sieger Hamilton und dem Zweiten Bottas feierte Mercedes in der Steiermark einen makellosen Doppelerfolg vor dem Dritten Max Verstappen im Red Bull.
Beim dritten WM-Lauf in Ungarn stand dieses Trio ebenfalls auf dem Podium. Nur in einer minimal veränderten Reihenfolge, die da lautet: Hamilton Erster, Verstappen Zweiter, Bottas diesmal Dritter. Das Rennen war wieder eine dominante Hamilton-Show, der mit seinem achten Sieg beim Puszta-Grand Prix Michael Schumachers Rekord mit ebenfalls acht Siegen auf einer Rennstrecke (Magny-Cours/Frankreich) eingestellt hat. Mit seiner 90. (!) Pole Position hat er den siebenmaligen Weltmeister Schumi (68) bereits übertroffen. Für Sechsfach-Champion Hamilton war es sein 86. Grand-Prix-Triumph, der 65. in Diensten von Mercedes seit 2013. Noch fünf Erfolge fehlen ihm, um mit Schumachers 91 Siegen gleichzuziehen. Diesen Rekord der deutschen Legende könnte Hamilton bei Ferraris Heim-Grand-Prix in Monza (6. September) einstellen. Dazu müsste er aber zuvor die zwei Grand Prix in Silverstone (2. und 9. August), die Rennen in Spanien (16. August/Barcelona) und in Belgien (30. August/Spa) gewinnen. Doch zurück in die Puszta. Dort gab es eine Machtdemonstration von Imperator Lewis Hamilton. In Bestform flog der Brite von der Poleposition allen davon und raste fehlerlos im „Sonntags-Spaziergang" zum zweiten Saisonsieg. Kurz vor Schluss sackte er zudem noch einen Zusatzpunkt für die schnellste Rennrunde ein. Das bedeutete einen weiteren Grand Slam aus Poleposition, Sieg und schnellster Rennrunde.
Leclerc und Vettel überrundet
Zuvor demütigte er noch die zwei Roten, wie es schlimmer nicht hätte sein können: In Runde 44 (von 70) überrundete er zuerst Leclerc und danach schnappte er sich auch noch Vettel. Dem Heppenheimer gelang mit Platz sechs immerhin ein Befreiungsschlag, und er sorgte mit diesem Resultat für Schadensbegrenzung. Wunderknabe Leclerc landete außerhalb der Punkte auf Rang elf im Niemandsland. Der Ferrari war erneut keine Offenbarung, die Überrundungen aber waren eine bittere Pille für das Team aus Maranello. „Es war schon vor dem Rennen klar, dass Hamilton uns überrunden würde. Das war keine Überraschung", kommentierte Vettel die Ferrari-Schmach. Für seinen Chef Mattia Binotto ist „die aktuelle Situation inakzeptabel und sehr schmerzhaft". Nach dem erniedrigenden Rennen in Ungarn beschwor die italienische Presse schon das Stühlerücken herauf. „Wieder eine Demütigung für Ferrari. Bald werden in Maranello Köpfe rollen", urteilte die „Gazzetta dello Sport". „Nichts kann Ferrari in dieser Phase retten", hieß es weiter. Voll des Lobes über ihren Sonnenkönig Lewis und sein Team war dagegen die „Daily Mail". Das Blatt schrieb: „Wir sehen einen der großartigsten Fahrer und eines der dominantesten Teams in der Formel-1-Geschichte. Wir sollten Hamilton und Mercedes bestaunen, ihnen Palmblätter zu Füßen werfen und die ganze Nacht auf sie anstoßen."
Jetzt stehen Hamilton zwei Heimrennen bevor. In Silverstone wird er mit Sicherheit nichts anbrennen lassen. Fünfmal hat er seit 2014 mit Mercedes die WM-Läufe dominiert, unterbrochen 2018 von Vettel im Ferrari. Nico Rosberg warnte RTL: „Silverstone ist Mercedes-Terrain schlechthin. Da sehe ich den Lewis als eindeutigen Favoriten."
Mit seinem Sieg auf dem Hungaroring übernimmt Hamilton mit 63 Punkten die WM-Führung vor Bottas (58) und Verstappen (33). Die beiden Ferrari-Piloten belegen die Plätze sieben (Leclerc/18) und zehn (Vettel/9). In der Teamwertung führt Mercedes mit 121 Punkten vor Red Bull (55) und McLaren (41). Ferrari landet mit 27 Zählern hinter Racing Point (40) auf Rang fünf. Vettels Kindheitstraum, mit Ferrari Weltmeister zu werden, ist schon nach drei Rennen geplatzt. Sein Rückstand auf Spitzenreiter Hamilton beträgt schon 54 Punkte. Das wird 2020 nichts mit dem WM-Titel, sind sich die größten Optimisten einig. Mit seiner Ausmusterung und wie er „abserviert" wurde, hat er ein wahres Erdbeben ausgelöst. Das wird allemal in Erinnerung bleiben.