Nach der langen Schockstarre der Corona-Pause freuen sich die deutschen Leichtathleten bei den nationalen Meisterschaften am 8. und 9. August in Braunschweig über die Rückkehr in den Wettkampfmodus.
Nach langer, langer Pause präsentierte endlich auch der Deutsche Leichtathletik-Verband (DLV) sein Konzept für die Deutschen Meisterschaften in der Corona-Zeit – doch die Freude hielt sich bei den Sportlern in Grenzen. „Das wird doch so keine richtige Deutsche Meisterschaft", kritisierte nicht nur Sprint-Ass Gina Lückenkemper. Die Vize-Europameisterin über 100 Meter solidarisierte sich mit den Mittel- und Langstreckenläufern, die bei der ersten Konzeptversion den Schutzmaßnahmen zum Opfer gefallen waren. Der Sicherheitsabstand sei auf der freien Bahn in Braunschweig nicht gewährleistet, argumentierten die Organisatoren. „Ich bin sprachlos", sagte Gesa Felicitas Krause. Die WM-Dritte über 3.000 Meter Hindernis hätte so nicht antreten können, was sie mit Blick auf andere Sportarten überhaupt nicht verstehen konnte: „Fußball spielt man mit 22 – und ein Meisterschaftsfinale mit acht bis zwölf Läuferinnen soll nicht möglich sein?"
Vielleicht hat die Welle der Empörung ja auch dazu geführt, dass das Gesundheitsamt auf der Grundlage einer neuen Corona-Verordnung vom 13. Juli auch die Mittel- und Langstrecken im Programm erlaubte. Es muss beim Start keine Bahn frei bleiben, auch können die Athleten danach wie gewohnt auf der freien Bahn laufen. Am 8. und 9. August finden in Braunschweig also – nicht nur in Lückenkempers Sinne – „richtige Deutsche Meisterschaften" statt. Die schrittweisen Lockerungen der behördlich angeordneten Schutzmaßnahmen „eröffnen uns die Möglichkeit, unser DM-Konzept um die noch fehlenden Wettbewerbe zu erweitern", erklärte DLV-Generaldirektor Idriss Gonschinska. Die DM soll auch deshalb „ein Signal sein", so Gonschinska, „dass es möglich ist, in der Vielfalt der Leichtathletik Wettkämpfe zu bestreiten." Trotz Corona.
Schrittweise Lockerungen
Eines ist aber weiterhin nicht erlaubt: Zuschauer. Und so ist die DM zwar ein erster Schritt zurück in die Normalität, aber die Auswirkungen von Corona sind noch zu spüren. „Ich komme damit klar", sagte Speerwurf-Olympiasieger Thomas Röhler. „Die Leute vergessen, dass das unser Alltag ist. Zu 95 Prozent bleibt das Stadion leer, wenn wir hier trainieren." Immerhin übertragen ARD und ZDF insgesamt fast sechs Stunden live von dem Event, diese enorm wichtige Einnahmequelle bricht dem Verband nicht weg.
Für die Athleten ist aber noch wichtiger, dass sie sich endlich wieder messen dürfen, nachdem die meisten monatelang allein zu Hause und dann am Stützpunkt nur trainieren konnten. „Ein Leistungssportler ohne Wettkampf existiert nicht", sagte Krause im ZDF. „Ich liebe den Sport, aber ich trainiere, um im Wettkampf zu stehen. Das ist das, was mich antreibt, was mir Motivation gibt." 5.000-Meter-Läuferin Denise Krebs verspürte zwischenzeitlich sogar „sehr große" Existenzsorgen, „denn das ganze Leben dreht sich um den Leistungssport, und das seit Jahren".
Und der Leistungssport stand plötzlich still. Vollbremsung von 100 auf 0. Als auch noch Olympia um ein Jahr verschoben wurde, versank die Leichtathletik in eine Schockstarre. „Ich hatte anfangs das Gefühl, dass eine Welt für mich zusammenbricht", gestand Europameisterin Krause, „ich hatte den Gedanken: Warum mache ich das hier eigentlich alles?" Doch mit der Zeit fasste Krause neue Motivation, Tokio ist bei ihr längst wieder im Fokus. Und ihr Trainer Wolfgang Heinig glaubt, durch die Corona-Pause „härter trainieren" zu können, sodass Krause in der Olympiasaison die 3.000 Meter Hindernis „vielleicht unter neun Minuten" zurücklegen kann. Also knapp vier Sekunden schneller als Krauses deutscher Rekord.
Auch Weitspringerin Malaika Mihambo hat sich mit der Situation arrangiert und neue Ziele gesetzt. Die Weltmeisterin hat ihre auch verbandsintern überraschenden Umzugs-Pläne in die USA, wo sie vom früheren Sprintkönig Carl Lewis trainiert werden soll, vorerst hinten angestellt. Auf ihren Start bei der DM wurde Mihambo von DLV-Coach Uli Knapp vorbereitet. Die angespannte Corona-Lage in den USA ermögliche ihr „derzeit keine optimalen Trainingsbedingungen", so Mihambo. Sofern „sich die Lage in Texas etwas normalisiert hat, sehen wir weiter." Zuerst aber steht die DM auf dem Plan, die auch für eine Ausnahmeathletin wie Mihambo nach so langer Pause extrem wichtig ist. Sie freue sich „sehr auf die Wettkämpfe", sagte Deutschlands Sportlerin des Jahres 2019, „als Sportler sucht man immer eine Herausforderung".
Kreative Lösungen entstanden
Generell ist in der Leichtathletik nach der großen Ungewissheit eine neue Aufbruchstimmung zu spüren. Kreative Lösungen entstanden, der Weltverband initiierte zum Beispiel den „Ultimative Garden Clash", bei dem sich die weltbesten Stabhochspringer in ihrem Garten auf eigenen Sprunganlagen herausforderten. Alles wurde via Internet für die Zuschauer übertragen. Norwegen rief in Oslo die „Impossible Games" ins Leben, ein Geister-Meeting, bei dem die Athleten wie Hürden-Weltmeister Karsten Warholm einen Mindestabstand von einem Meter halten mussten und mitunter sogar alleine im Stadion gelaufen sind.
In gewisser Weise waren solche Wettbewerbe Vorreiter für die DM, denn die Macher konnten aus den Konzepten lernen und darauf aufbauen. Die Leichtathletik ist gemessen an den Schutzmaßnahmen nicht zu vergleichen mit Fußball- oder Basketballspielen. Eine Quarantäne der in alle Richtungen Deutschlands und sogar darüber hinaus verstreuten Athleten war zum Beispiel vor der DM nicht umsetzbar. Auf 45 Seiten haben die Macher dennoch ein Hygiene-Konzept erarbeitet, das die Sonderheiten der Leichtathletik berücksichtigt und trotzdem möglichst große Sicherheit bietet. Maximal 700 Personen sind zugelassen, im Innenraum dürfen sich zeitgleich nur rund 150 Menschen aufhalten. Läufe finden nur auf vier auseinander liegenden Bahnen statt, die Werfer dürfen nur mit ihren persönlichen Geräten werfen.
Viele Maßnahmen gehen natürlich auf Kosten der Freude und des Spaßfaktors. „So hätte ich es mir im Vorfeld nicht erträumt", sagte Manfred Mamontov, der Technische Direktor Wettkämpfe, „das ist der Wahnsinn." Mit Musik will man die Athleten bei Laune halten, „aber natürlich blutet einem das Herz, zumal der Vorverkauf so gut gelaufen ist", sagte Event-Direktor Marco Buxmann. Die ursprünglich für 6. und 7. Juni angesetzte DM war eigentlich als stimmungsprächtige Standortbestimmung für Olympia in Tokio vorgesehen – doch Corona hat einen dicken Strich durch diese Rechnung gemacht.
„Den Fokus schon auf Olympia richten"
Mit der DM erwacht die Leichtathletik aber aus ihrem Dornröschenschlaf. Auch die neue Bundestrainerin Annett Stein hofft, dass der Wettkampfkalender im Anschluss „an Fahrt aufnimmt". Sie glaubt, dass sich durch mehr Wettkämpfe „die Leistungen steigern" und „die Saison wieder auf Touren kommt". Nach der DM beginnt die sogenannte Late Season, ein von Mitte August bis Mitte Oktober voller Terminkalender mit Events, die nachgeholt werden. Doch längst nicht alle Wettkämpfe haben es in diesen eng gesetzten Zeitrahmen geschafft, viele traditionelle Events mussten ersatzlos gestrichen werden.
Für die Sportler hat Bundestrainerin Stein in der jetzigen Situation zwei Ratschläge: „Die Saison so annehmen, wie sie ist, das Beste daraus machen. Und den Fokus schon auf Olympia richten." Bei Röhler funktioniert das sehr gut. „Ich kann Olympia sehr gut visualisieren und mir immer wieder gut vorstellen, das hilft mir", sagte der Speerwurf-Olympiasieger. Es würde zur Not sogar funktionieren, „wenn ich 2020 ohne Resultat dastehen würde". Röhler sieht in der Corona-Pause auch etwas Positives. „Vielleicht gibt es unserer Karriere auch eine Chance", sagte der Europameister, „dass wir eine etwas druckentschleunigte Phase haben."
Doch diese Phase soll nun ein Ende haben, die Leichtathleten wollen endlich wieder Druck spüren. Wettkämpfe sind durch kein Training der Welt zu ersetzen, auch deshalb zieht es die nationalen Stars wie Krause, Mihambo und Röhler nach Braunschweig.