2014 wurde André Schürrle zum deutschen Fußball-Helden. Er wurde nicht nur Weltmeister, sondern war auch der Vorlagengeber zum goldenen Tor im Finale. Doch danach waren die Erwartungen und der Druck zu hoch. Nun verkündete er mit 29 Jahren seinen Rücktritt.
Es ist natürlich Quatsch, dass jemand, der viel Geld verdient, kein Mitleid braucht. Ob André Schürrle Mitleid braucht, weiß man nicht. Aber ein bisschen leidtun kann er einem schon. Obwohl er viele Millionen verdient hat und eine Menge Ruhm, Ehre und Anerkennung bekam. Doch André Schürrle wollte schon als kleiner Junge nur Fußball spielen. Und er war gut darin. So gut, dass er mit 18 Bundesliga-Spieler wurde. Mit 19 Nationalspieler. Und mit 23 Weltmeister. Als Vorlagengeber des einzigen Tors im WM-Finale. Er hatte seinen Traum, den Traum vieler kleiner Jungs gelebt. Er spielte in großen Stadien mit großen Stars und war selbst einer. Doch er wollte eben eigentlich nur (Fußball) spielen und geriet dabei – eben, weil er so gut war – in ein Geschäft, in dem er sich nicht wohl und zu Hause fühlte. Das ihn aufrieb, frustrierte und bekümmerte. Trotz der großen Stadien. Des vielen Geldes. Und der großen Zuneigung der Fans, die eben auch oft ins Negative umschlagen konnte.
So war es für viele überraschend, dass Schürrle Mitte Juli seine Karriere für beendet erklärte. Mit erst 29. Und trotz eines noch laufenden und gut dotierten Vertrages mit Vize-Meister Borussia Dortmund. Den er – wenn auch gegen eine beachtliche Abfindung – einfach auflöste. Doch für diejenigen, die genau hingeschaut und seinen Werdegang verfolgt hatten, war dieser Schritt gar nicht so überraschend. Weil es von außen offensichtlich war, dass Schürrle mit diesem Geschäft nicht so recht warm wurde. Und weil er auch nach jenem glorreichen und unvergesslichen Moment im WM-Finale 2014 im Maracana von Rio ständig auf der Suche schien und nirgendwo heimisch wurde.
Mit 23 schon Weltmeister: War es zu früh?
Nach einem halben Jahr verließ er London und den FC Chelsea – dazu später mehr – in Wolfsburg blieb er auch nur anderthalb Jahre. Doch selbst in Dortmund unter seinem einstigen Förderer Thomas Tuchel fand er nicht mehr zu alter Form zurück. Und auch die Leihen zum FC Fulham und Spartak Moskau waren eher frustrierend.
Und es war ja auch nicht so, als habe Schürrle zuvor nie etwas gesagt. Dem Magazin „11 Freunde" hatte er schon im November 2018 ein bemerkenswert offenes Interview gegeben. Er habe Dortmund und Deutschland unbedingt verlassen wollen, „weil ich das Gefühl hatte, zur Zielscheibe zu werden", sagte er damals: „Letztlich wollte ich die ständig hohen und überzogenen Erwartungen, die negativen und oberflächlichen Einschätzungen und Meinungen und die – zumindest empfand ich es so – teils mangelnde persönliche Wertschätzung hinter mir lassen."
Auch die Weggefährten hatten schon gemerkt, dass André Schürrle ein Suchender war. „Er grübelt zu viel", hatte sein Wolfsburger Trainer Dieter Hecking gesagt. BVB-Chef Hans-Joachim Watzke verwies etwas unbarmherziger darauf, dass Schürrle ja „nicht nur in Dortmund nicht funktioniert" habe. Sollte runtergebrochen wohl heißen: Es lag an ihm. Nicht an uns.
Schürrle war eben jemand, der alles über sich las und sich vieles zu Herzen nahm. Der versuchte, mit negativen Schlagzeilen und vor allem respektlosen Kommentaren in den sozialen Netzwerken klarzukommen. Der es aber verständlicherweise nur bedingt schaffte. Und der auch den Druck hoher Ablösesummen auf seinen Schultern spürte. Fast 100 Millionen Euro zahlten die verschiedenen Vereine im Laufe der Jahre für ihn. Rund zehn Millionen Leverkusen beim Wechsel aus Mainz und je etwa 30 dann Chelsea, Wolfsburg und Dortmund. Deshalb schilderte er Tuchel, der ihn einst in Mainz zum Bundesliga-Spieler machte und ihn dann nach Dortmund lotste, damals auch seine Bedenken. „Wieder würde ein Verein extrem viel Geld für mich ausgeben", erklärte er: „Deshalb sagte ich zu Thomas: ‚Die Erwartungen an mich werden wegen des Preises sehr hoch sein. Das war für mich schon in Wolfsburg nicht leicht zu verarbeiten.‘"
Die Erwartungen war zu hoch
Deshalb noch mal zurück zum FC Chelsea. Als Schürrle nach der WM 2014 – bei der er übrigens auch das Führungstor in der Verlängerung des Achtelfinals gegen Algerien und die beiden letzten Tore beim legendären 7:1 gegen Brasilien schoss – als Weltmeister zurückkam, habe er gemerkt, dass die Leute, und allen voran Teammanager José Mourinho, anders auf ihn reagierten. Aber nicht nur der Respekt, auch die Ansprüche waren gestiegen. Gleichzeitig hatte Schürrle einen sehr kurzen Urlaub. Musste mit 23 den Hype um seine Person verarbeiten und die Rückkehr vom WM-Rausch in den Alltag vollziehen. Deshalb sei er bald „in das tiefste Loch gefallen, das es gibt", gestand er dem „Spiegel", von dem er sich in den letzten sieben Karriere-Monaten begleiten ließ und über den er dann auch sein Karriereende verkündete: „Ich wollte nicht mehr Fußball spielen. Ich war völlig am Ende." Als Mourinho ihn häufiger auf die Bank setzte, sei das einerseits zwar die „Höchststrafe" gewesen, aber auch fast schon eine Erlösung. Man komme „mal zum Durchatmen" und laufe „nicht Gefahr, es wieder zu versauen", sagte er. Schürrle zog sich in dieser Phase mehr und mehr zurück, auch von seinen Liebsten. „Ich war manchmal wie besinnungslos vor Sorge, weil ich gemerkt habe, wie er leidet", sagte seine Mutter im „Spiegel"-Artikel.
In Wolfsburg habe er dann schon daran gedacht, „alles hinzuschmeißen", sagte Schürrle. Und der Gedanke habe ihn nicht mehr losgelassen. „Aber diese gesellschaftliche Erwartungshaltung hat schon gedrückt, dass man bis Mitte 30 ja eigentlich nicht aufhören kann." Er tat es letztlich doch, ein halbes Jahr vor dem 30. Geburtstag. „Die Entscheidung ist lange in mir gereift", sagte „Schü", dessen Prioritäten sich nach der Hochzeit und der Geburt seiner Tochter noch mehr verschoben: „Ich brauche keinen Beifall mehr." Er sei eben oft einsam gewesen, gerade als „die Tiefen immer tiefer wurden und die Höhepunkte immer weniger." Man müsse im Fußball eben „immer eine gewisse Rolle spielen, um in dem Business zu überleben. Sonst verlierst du deinen Job und bekommst auch keinen neuen mehr."
Aus dem Geschäft gab es auch ob solcher offenen Worte keine Häme oder Kritik wie einst beim Rücktritt von Marcell Jansen im selben Alter, den der frühere DFB-Teamchef Rudi Völler mit den Worten kommentierte, Jansen habe „den Fußball nie geliebt". Diesmal wurde aus allen Ecken Respekt geäußert. „Ich ziehe den Hut vor seiner Entscheidung", sagte Bundestrainer Joachim Löw. Christian Heidel, zu Zeiten von Schürrles Aufstieg in Mainz Manager, sagte dem „Kicker", er habe „große Hochachtung" vor Schürrles Schritt, „weil er überaus ehrlich ist. Ich bin sicher, dass André irgendwo untergekommen wäre, deshalb finde ich es außerordentlich bemerkenswert, dass ein junger Mann sagt: Ich bin nicht mehr so motiviert, mir macht es nicht mehr diese Freude."
Mutter machte sich Sorgen
Natürlich könne er sich „aufgrund seiner sportlichen Vergangenheit diesen Schritt leisten, aber andere Spieler in vergleichbaren Situationen hat es nicht gestört, trotzdem zu versuchen, irgendwo einen Vertrag zu bekommen."
Die Kritik richtete sich diesmal an andere. Dieser Druck, „die ständigen Schlagzeilen, dieses ewige ‚wieder nicht gut genug‘ ist insbesondere für intelligente, sensible und selbstreflektierte Menschen eine unfassbar große Last", schrieb der frühere Bayern-Spieler Jan Kirchhoff, der mit Schürrle schon in der Mainzer A-Jugend zusammenspielte, in einer „Goal"-Kolumne. Im Endeffekt solle Schürrles frühes Karriereende „auch dazu bewegen, darüber nachzudenken, wie eine solche Erwartungshaltung entsteht und wie man gerade mit in der Öffentlichkeit stehenden Menschen umgeht." Hecking sagte dem „Sportbuzzer": „Man sieht, dass der Rucksack für die jungen Menschen manchmal zu groß ist."
Klar ist, dass dieser goldene Moment des WM-Finals für Schürrle und seinen Freund Götze in der Folge sowohl Fluch als auch Segen war. Über Götze sagte sein langjähriger Dortmunder Teamkollege Marcel Schmelzer: „Ich könnte mir vorstellen, dass Mario nach der Karriere irgendwann sagt, er hätte das Tor lieber nicht geschossen, sondern für jemanden anderen vorbereitet." Schürrle sagte an dieser Stelle der DAZN-Doku „Being Mario Götze", er beneide Götze nicht um das Tor. Dass er die Vorlage lieber auch nicht gegeben hätte, empfindet er aber nicht so. „Wenn ich darüber nachdenke, würde ich es nicht verschieben wollen", sagt er: „Ich kann doch froh sein, dass es in meiner Karriere überhaupt diesen perfekten Moment gab."