Union Berlin als krasses Beispiel einer zunehmenden Unvernunft
Das Coronavirus treibt uns alle um. Wir wissen inzwischen viel über das Virus, aber immer noch zu wenig. Über die Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen wird kontrovers diskutiert. Der Lockdown war aus meiner Sicht strategisch nicht genügend durchdacht. Verbote von Großereignissen und Abstand halten waren und sind zwingend. Mit dem Mund-Nasen-Schutz, einer unabdingbaren Maßnahme, wurde aus bekannten Gründen zu lange taktiert. Alles andere ist zumindest zum Teil diskussionswürdig.
Warum danach die rasante Lockerung? In nahezu allen Bereichen konnte es nicht schnell genug gehen. Manche Freizügigkeit mutet doch sehr populistisch an. Die Warnungen der Virologen, die ich durchaus kritisch verfolgt habe, wurden buchstäblich in den Wind geschlagen.
Der Profisport ist, wie es unisono formuliert wird, nicht systemimmanent. Deshalb wurde auch heftig darüber gestritten, ob der Fußball in Anbetracht der Restriktionen in anderen Bereichen wieder rollen durfte. Es waren in erster Linie wirtschaftliche Interessen, was auch keineswegs geleugnet wurde. Wohltuend war die neue Bescheidenheit, nach der Pandemie manches zu hinterfragen.
Aber was kümmert mich mein Geschwätz von gestern? Allüberall hört und liest man, möglichst schnell wieder vor Zuschauern spielen zu wollen. Das ist ein durchaus verständlicher Wunsch, und Gedankenspiele im stillen Kämmerlein wären nachvollziehbar. Aber muss es so offensiv und medial begleitet vorgetragen werden, wenn systemimmanente Bereiche wie Kitas und Schulen noch um das richtige Prozedere ringen? Oder ist das Verbot von Großereignissen bis Ende Oktober nicht das Papier wert, auf dem es geschrieben ist? Auch wenn die Stadien nur teilweise gefüllt sind, gehören nach meinem Verständnis Spiele mit Tausenden von Zuschauern und den daraus resultierenden logistischen Konsequenzen zu Großereignissen.
Den Vogel schießt Fußball-Bundesligist Union Berlin ab. Der Ostberliner Verein will mit Beginn der neuen Saison vor 22.000 Zuschauern spielen, also in einem ausverkauften Stadion. Grünes Licht wird sogar vom Berliner Gesundheitssenator signalisiert. Union Berlin genießt Kultstatus und gilt als besonderer Verein, was durchaus als positiv zu verstehen ist. Deshalb irritiert dieser tollkühne Vorstoß.
Ich will es klar benennen. In einer Zeit, in der weltweit die Zahl der Corona-Infektionen immer noch zunimmt, ist es verantwortungslos, Fußballspiele in ausverkauften Stadien durchführen zu wollen. Ohne im Detail auf die verschiedenen Probleme einzugehen, provozieren solche Sportveranstaltungen neue Infektionsherde. Nebenbei: Sollten mögliche Infizierte in Kliniken behandelt werden müssen, beteiligt sich dann der Verein an den Kosten?
Union Berlin ist ein krasses Beispiel einer zunehmenden Unvernunft. Generell wird inzwischen unverhohlen diskutiert, wie man möglichst schnell wieder in gefüllten Stadien spielen kann. Ist das die avisierte neue Bescheidenheit? Wir wissen heute, dass das Coronavirus gefährlicher als das Grippevirus ist und auch bei Jüngeren erhebliche Folgen an verschiedenen Organen hinterlassen kann. Ist die Gesundheit so wenig wert, um privilegierten Sportarten Ausnahmen zu erlauben?
Um nicht missverstanden zu werden: Die bisherigen Geisterspiele waren von hoher Qualität und durchaus sehenswert. Die Disziplin der Spieler und Betreuer hat es möglich gemacht, das Hygienekonzept erfolgreich in die Praxis umzusetzen. Aber zweifellos hat die Atmosphäre, sprich haben die Zuschauer, gefehlt. In einem ironisch und provokant geschriebenen Artikel habe ich kürzlich gelesen: „Fußballspiele ohne Fans ähneln zwar einem Coitus interruptus, machen aber immer noch mehr Spaß als gar kein Sex." („Die Welt", 27. April).
Dennoch sollte im Interesse unserer Gesundheit so lange auf einiges verzichtet werden, so lange das Coronavirus nicht in Schach gehalten werden kann. Alles Schwadronieren über baldmöglichst volle Zuschauerränge ist dabei wenig hilfreich.
Dazu passt folgendes Zitat von Leo Tolstoi: „Alles nimmt ein gutes Ende für den, der warten kann."