Nach Jahren weitgehender Abstinenz haben sich die Designer diesen Sommer für eine triumphale Rückkehr des Dekolletés entschieden. Für das freizügige Entblößen halsabwärts haben sie neben klassischen auch neue, kreative Lösungen gefunden.
Noch vor vier Jahren hatte die meinungsbildende „Vogue" dem Dekolleté das Verschwinden von der Fashion-Bühne vorausgesagt. Fraglos auch weil sich die meisten Designer gänzlich anderen Partien des weiblichen Körpers für tiefe Einblicke auf nackte Haut zugewandt hatten. Schließlich hatte kein Geringerer als König Karl Lagerfeld 2015 das Motto ausgegeben: „Die Taille ist das neue Dekolleté." Von daher dauerte es eine geraume Zeit, bis dieses traditionsreiche Gestaltungsdetail vor allem für Kleider oder Blusen nach seiner letzten Hochphase im Jahr 2013 wieder repräsentativ auf den internationalen Laufstegen vertreten war. Sogar die hiesigen Dirndl-Spezialisten hatten für das Oktoberfest 2018 hochgeschlossenen Trachtenkleidern den Vorzug gegeben, obwohl bei ihnen jahrelang das „Holz vor der Hütt’n" im Fokus gestanden hatte.
Im Sommer 2019 wurden sogar Vorfälle aus Frankreich publik gemacht, als sich Damen, die sich dem modischen Verdikt der offenherzigen Necklines nicht beugen wollten, auf der Straße wüsten männlichen Beschimpfungen zu erwehren hatten. Daraufhin wurde auf Twitter unter dem Hashtag #JeKiffeMonDecollete eine Kampagne mit dem Slogan „Freiheit, Gleichheit, Dekolleté" an den Start gebracht. Schon merkwürdig, dass in Zeiten, in denen modisch so ziemlich alles erlaubt ist, eine solche scheinheilige Prüderie aufkommen konnte. Schließlich hatte fast ein Jahrtausend lang so gut wie niemand Anstoß an der Décolletage genommen. Vom Mittelalter bis zur Viktorianischen Epoche, sprich vom 11. bis zum 19. Jahrhundert, war es für Damen der gehobenen Gesellschaft kein bisschen anstößig, ihre Büstenregion freizügig zur Schau zu stellen, wohingegen andere Körperregionen, vor allem Beine und Füße, möglichst züchtig bedeckt sein mussten. Einblicke auf nackte Haut von Rücken oder Bauchnabel, wie sie heute häufig freizügig gewährt werden, wären damals undenkbar gewesen.
„Freiheit, Gleichheit, Dekolleté"
Nach Ende des Viktorianischen Zeitalters wurden in den Goldenen Zwanzigern tiefe Ausschnitte wieder salonfähig. Dabei blieb es auch nach dem Zweiten Weltkrieg, wobei Schauspielerinnen wie Marilyn Monroe, Jane Maynsfield, Sophia Loren oder Brigitte Bardot ihre Erfolge auch ihren durch tiefe Dekolletés betonenden Kurven zu verdanken hatten. Das wiederum hatte feministischen Vorkämpferinnen ziemlich missfallen, weil sie ihren Geschlechtsgenossinnen unterstellten, dieses verführerische Bekleidungsdetail nur zugunsten der großen Männeraugen eingesetzt zu haben. Spätestens ab den Nullerjahren des 21. Jahrhunderts, als die meisten Promi-Ladys auf sämtlichen roten Teppichen der Welt ihre Büsten dank möglichst raffiniert ausgeschnittener Teile vor den Boulevardblatt-Kameras präsentiert hatten, hatte sich niemand mehr über tiefe Ausschnitte weiter aufgeregt. Auch wenn Coco Chanel manche diesbezüglichen Auswüchse sicherlich mit ihrem berühmten Ausspruch süffisant kommentiert hätte: „Ein Dekolleté ist jener schmale Grat, auf dem der gute Geschmack balanciert, ohne herunterzufallen." Die Modezarin dürfte allerdings ausgeblendet haben, dass im Laufe der Geschichte so manche adligen Damen ihre betont weiblichen Reize ganz bewusst zur Erreichung sogar allerhöchster Ziele eingesetzt hatten. Preußenkönigin Luise beispielsweise war 1807 in Tilsit mit dem laut dem französischen Chefdiplomaten Charles-Maurice de Talleyrand „tiefsten und vollsten Dekolleté, das eine Deutsche je zeigte" vorstellig geworden, um von Napoleon einen möglichst gnädigen Friedensvertrag für ihr vernichtend geschlagenes Land zu erhalten.
Einem Vergleich zum legendären grünen Versace-Dress, das Jennifer Lopez anlässlich der Grammy-Verleihung im Jahr 2000 getragen hatte, dürfte die Luise-Robe allerdings kaum gewachsen gewesen sein. Ein solches Maximum in Sachen Ausschnitt wird frau allerdings auch in den aktuellen Kollektionen der Designer für diesen Sommer kaum wiederfinden können. Dabei lässt sich kein einheitlicher Neckline-Style ausmachen. Vielmehr ist eine ungewöhnliche Vielfalt bei der Dekolleté-Gestaltung zu beobachten, mal löffelförmig, ein andermal in O-Gestalt (Roben von Céline oder Chloé) gehalten, mal viereckig (Y/Projekt oder Bottega Veneta fast im Stil der Renaissance), ein andermal atemberaubend klaffend gestaltet (Kleider von Valentino, Victoria Beckham, Balmain, Saint Laurent, Kimhekin, Givenchy oder Stella McCartney), mal strategisch gelayert (wie bei Miu Miu durch Kombi von Top und Trägerkleid), ein andermal sogar asymmetrisch. Den herzförmigen Ausschnitt nicht zu vergessen.
Es ist wichtig, den guten Geschmack zu wahren
Oft sind auch die Grenzen zu Dekolleté-ähnlichen Off-Shoulder-Lösungen wie Chanel, Area oder Philosophy verwischt. Was auch für schulterfreie Peekaboo-Frontansichten von Staud, Brandon Maxwell oder Proenza Schouler gilt, bei denen die Tops knapp unter Brusthöhe wie Vorhänge aufgeschlagen sind. Schließlich können in diesem Zusammenhang auch noch Kleider oder Tops mit Spaghetti-Trägern mit U-förmigem Ausschnitt erwähnt werden.
Laut dem Magazin „Elle" haben die Designer das Dekolleté „inoffiziell zum Hauptakteur ihrer Kollektionen" deklariert. Am meisten Bewunderung wurde der Ausschnitt-Variante von Simon Porte Jacquemus gezollt, dessen Strick-Top je nach Gusto dank einer Knopfleiste mehr oder weniger offenherzige Blicke erlaubt. „Bei ihm wirkt das Dekolleté wunderbar unangestrengt", so „Harper’s Bazaar", „und deshalb passender denn je zu den omnipräsenten, selbstbewussten und stilvollen Frauen unserer Gegenwart." Absolute Must-haves, Bestseller und Favoriten vieler VIP-Damen die Modelle des angesagten Contemporary-Labels Khaite, dessen „Maddy"-Top unter anderem Rosi Huntington-Whiteley mega-populär gemacht hat. Interessant auch die Variante von Christopher Kane, der die blanke Haut durch zwei azurblaue Einsätze am Oberteil geschickt etwas bedeckt. Ähnlich verspielte Neckline-Lösungen sind auch Versace bei diversen Bustiers gelungen. Tief ausgeschnittene Teile sind vor allem etwas für Damen mit weniger ausgeprägter Oberweite, allerdings sollten sie sich vor etwaigen Nippel- oder BH-Blitzern durch versteckte Hilfsmittelchen wie Klebebänder schützen.
„Inoffizieller Hauptakteur der Kollektionen"
Ganz wichtig, um das Dekolleté zu einem tollen Blickfang zu machen, ist natürlich die möglichst perfekte Pflege der besonders empfindlichen Haut zwischen Brustansatz und Hals. Gerade in dieser Zone ist die Haut vergleichsweise dünn und zudem trocken, weil hier das Unterhaut-Fettgewebe fehlt und es vergleichsweise wenige Drüsen zur Talgproduktion gibt. Auch Kollagenfasern sind nicht sonderlich zahlreich vertreten. All das hat zur Folge, dass hier kein schützender Film auf der Hautoberfläche vorhanden ist, was bei mangelnder Pflege leicht zu Irritationen oder Entzündungen führen kann, die auch durch unverträgliche Substanzen in Textilien, Parfums oder Schmuckstücken ausgelöst werden können. Kommen dann noch Sonnenstrahlen hinzu, besteht die Gefahr von vorzeitiger Falten- oder Pigmentflecken-Bildung hinzu. Ein regelmäßiges, mildes Enzympeeling im Abstand von ein bis zwei Wochen ist mehr als empfehlenswert. Auch in die tägliche Pflegeroutine sollte der Dekolleté-Bereich einbezogen werden, wobei frau der Einfachheit halber die gleichen Produkte wie für Gesicht und Hals verwenden kann. Die Feuchtigkeitscreme sollte allerdings nicht zu fettreich sein, weil die dünne Haut Fett nicht in Übermaß aufnehmen kann. Auf jeden Fall sollte auf einen ausreichenden Lichtschutzfaktor großer Wert gelegt werden.