Millionen Menschen weltweit haben eine Lese- und Rechtschreibstörung. Der Designer Federico Alfonsetti hat die Schriftart „EasyReading“ entworfen, um solchen Menschen den Zugang zum geschriebenen Wort zu vereinfachen.
Weltweit gibt es über 700 Millionen Legastheniker. Das sind etwa zehn Prozent der gesamten Weltbevölkerung. Legasthenie – auch Dyslexie – ist aber kein pathologischer Moment, sondern eine Schwäche. Menschen mit Lese- und Rechtschreibstörungen können die gesprochene Sprache nicht in eine geschriebene umdenken, „entschlüsseln“ und umgekehrt. Erst seit 20 Jahren wird das partiell noch ungeklärte Phänomen erforscht und gemessen. Das Verständnis für Betroffene, die vorher schnell vorverurteilt wurden, hat sich endlich gewandelt. Die Sensibilität für das Thema ist gestiegen. Neben genetischer Veranlagung gelten Probleme bei der auditiven und visuellen Wahrnehmungsverarbeitung als Gründe. Auch psychosomatische Belastungen beeinflussen das Leseverhalten. Legastheniker beschreiben ihre Reaktionen unterschiedlich. Vor allem ähnliche Buchstaben wie p, q, b, d scheinen zu wackeln, verschieben sich, verschwinden oder reißen Lücken. Auch prominente Dichter, Künstler und Denker wie Albert Einstein, Leonardo da Vinci, Pablo Picasso, Agatha Christie, Milliardär Richard Branson oder John Lennon litten an der heute diagnostizierten Lese-Schwäche.
Hinzu kommt, dass jeder Mensch heute einer kaum mehr zu verkraftenden täglichen Informationsflut ausgesetzt ist. Wir schnappen hier etwas auf, lesen dort etwas im Vorbeigehen. Die meisten Berufe sind mit dem Bildschirm verschwägert. Die Augen ermüden beim Rasen über den Screen. Schön wäre es, wenn auch ältere Menschen mit Altersweitsicht eine Erleichterung beim Lesen finden könnten.
Auch für ältere Menschen ein Vorteil
Wie wäre es durch bessere Lesbarkeit von Schrift, für „Jedermann“ und „Jederfrau“ eine Entspannung im Kopf und für die Augen zu bewirken? Diese Frage, die keinesfalls nur noch theoretisch ist, hat sich der italienische Verleger und Designer Federico Alfonsetti nicht nur gestellt, sondern über zehn Jahre eine typografische Schriftform (Font) entwickelt, die durch besonders leichte Lesbarkeit Menschen zukünftig weltweit den Weg zum geschriebenen Wort erleichtern soll.
Der Name des Font-Design „EasyReading“ ist ebenso eingängig wie seine gute Lesbarkeit auf den ersten Blick, wenn man in das Meer der Schriftzeichen mit ihren runden, fast wie handgeschrieben wirkenden kleinen Wellen eintaucht. Sofort stellt sich die Frage: Wie muss ein typografisches Schriftzeichen dafür designt sein? „Erst mal sollten alle Buchstaben mit ähnlicher Form nicht verwechselt werden. ‚EasyReading‘ funktioniert wie ein Hybrid-Font ohne Serifen. Nur sich ähnelnde Buchstaben wie d, p, q oder g besitzen speziell designte Serifen. Ober- und Unterlängen sind um 70 Prozent größer als beim Durchschnitt anderer Fonts. Außerdem wirkt der größer kalibrierte Abstand dem sogenannten ‚Crowding Effect‘ (Verdichtungseffekt) entgegen, was die Lesbarkeit deutlich erleichtert“, erklärt Signor Federico und hält dabei stolz sein erstes Buch „Stori die normale dislessia“ mit dem Leicht-zu-Lesen-Font in der Hand, von dessen Cover der wild frisierte Einstein eine blau gefärbte Zunge herausstreckt. Er ist einer der 15 berühmten Legastheniker, die darin portraitiert sind. Wer weiß welche genialen Ideen dem Jahrhunderthirn noch durch den Kopf geschossen wären, wenn er damals diese Lesehilfe genossen hätte? Diese Buchveröffentlichung war 2006 die Initialschaltung, sich näher mit dem Thema zu beschäftigen.
Auf der „EasyReading“-Website, die bis dato nur auf Englisch und Italienisch verfasst ist, gibt es die Möglichkeit eines interaktiven Schriftenvergleichs mit der serifenfreien Standard-Schrift Arial und anderen gängigen Open-Source-Fonts. Ein erklärender kleiner Film gibt detaillierten Aufschluss zur „Architektur“ des Fonts. Die Schrift Verdana kommt ihr am nächsten. Einer der wichtigsten Impulsgeber für den Font-Designer war der inzwischen verstorbene große Meister des italienischen Designs, Bruno Munari. Von den Typografien, die Munari für seine Gebrauchsgrafiken wählte, ließ sich sein 67-jähriger Landsmann für seinen eigenen beruflichen Lebensweg inspirieren.
Ein schneller Erstblick ins Buch bestätigt: Die Schrift liest sich tatsächlich besser – irgendwie luftiger und neben all ihrem Pragmatismus in Sachen Lesbarkeit, mutet sie auch noch ästhetisch an. Vom italienischen Verband für Legasthenie, der Associazione Italiana Dislessia (AID), wurde „EasyReading“ bereits für ihre speziellen Designeigenschaften anerkannt und wird im Easy-Lese-Pionierland bereits in den verschiedensten Bereichen verwendet: Seit der ersten, dort verorteten „Pilotphase“ nutzen auch italienische Verlage die Website der Universität Turin, das italienische Ministerium für Unterricht, Universitäten und Forschung (MIUR), die Fondazione Einaudi, die Museen Triennale und Palazzo Reale in Mailand, der Palazzo Reale in Turin, das Teatro Regio in Turin für die Übertitel der Opern, aber auch die Food-Bewegung Slow Food – mit dessen Gründer Carlo Petrini der Turiner Alfonsetti seit langem befreundet ist – benutzt die „revolutionäre Schriftart“. Selbst die italienischen Micky-Maus-Hefte erscheinen seit Kurzem mit dem „EasyReading“-Font. Und weitergedacht, ergeben sich durch die leichtere und damit schnellere Lesbarkeit unglaublich viele alltagskompatible Möglichkeiten. Denn Schriftarten werden nun mal überall eingesetzt: in Zeitschriften, im Internet, auf Straßenschildern, auf Werbeplakaten. Gerade Berufsgruppen, die mit vielen Texten arbeiten wie Studenten, Lektoren, Verlagsmenschen oder Journalisten profitieren von der Erleichterung ihrer Arbeitsprozesse.
Kostenloser Download ist möglich
Und die Tatsache, dass in vielen Schulen nur noch auf dem Laptop geschrieben und gelesen wird, würde bei „Leseverzögerung“ eine enorme Erleichterung verschaffen. Augen ermüden weniger, Augenbewegungen verlangsamen sich nachgewiesen, in kürzerer Zeit können Informationen schneller aufgenommen und sogar Fehler schneller erkannt werden. Auch kleine Punktschriften wie in pharmazeutischen Beipackzetteln oder Gebrauchsanweisungen können schneller erfasst werden. Nicht nur in unserer lateinischen Schriftform, sondern auch für Kyrillisch und Griechisch – als Sprache der Universitäten – wurden die Schriften bereits adaptiert. Denn Alfonsetti möchte zukünftig einen weltweiten Markt mit der Schrift erobern.
Der gebürtige Turiner kommt ursprünglich übrigens auch aus dem Verlagswesen. Er gehörte zu den Gründern des 2004 entstandenen Verlags Angolo Manzoni, für den er nicht nur das Layout der Bücherreihen gestaltete, sondern auch sorgsam die Schriften wählte und dabei stets auf maximale Lesbarkeit achtete. Der passionierte Grafikdesigner und Verleger hatte schon immer ein Faible für Schriftarten. Das lesbare Wort fasziniert ihn seit vielen Jahrzehnten. Seine Leidenschaft für Buchstaben entdeckte er bereits 1969 an der Schule für Werbeplakatmalerei. Damals waren die Schriftzeichen noch aus Blei. Bleistift, Tusche, Pinsel, Papier, Schere und Kleber waren seine Arbeitsutensilien, bevor er Ende der 80er-Jahre auf ein MacBook umstieg. Durch dieses ergaben sich plötzlich viele weitere Möglichkeiten, Neues zu kreieren, seine Ideen zu visualisieren und Visionen Wirklichkeit werden zu lassen. Es brauchte fast ein Jahrzehnt passionierter Entwicklung und wissenschaftlicher Studien, bis mit „EasyReading“ eine innovative Lösung der neuen modernen Typografie gefunden wurde.
Alfonsetti kommt seinem größten Ziel – einer Lesbarkeit für alle – immer näher. Vor allem kann sich jede Privatperson bereits den Font kostenlos herunterladen. Bei einer professionellen Nutzung für Publikationen zahlen Verlage und andere Unternehmen je nach Veröffentlichungsvolumen eine individuell errechnete Lizenzgebühr. Wenn sich die Schrift dann irgendwann auch zu den Standard Fonts der „Big Player“ fügt, wäre sie 100 Prozent easy und für „Jedermensch“ zugängig – und am Ende ein echter Gewinn an Lebenszeit.
Infos: www.easyreading.it/en