Der vor 65 Jahren verstorbene Thomas Mann gilt als einer der größten deutschen Erzähler des 20. Jahrhunderts. Allerdings polarisierte der „Zauberer“, wie er von seiner Familie genannt wurde, schon zu Lebzeiten – nicht zuletzt als prominenter Hitler-Gegner und Verfechter einer deutschen Kollektivschuld.
Seinen größten literarischen Triumph konnte er 1929 nicht in vollen Zügen genießen. Denn der Nobelpreis für Literatur wurde ihm ausdrücklich nur für seinen schon 1901 erschienenen, frühreifen Debütroman „Buddenbrooks“ verliehen. Die Saga um die titelgebende Lübecker Familie knüpfte in epischer Breite und gemächlich-verzwicktem Duktus nahtlos an die Generationenromane des 19. Jahrhunderts an. Dabei hatte die Schwedische Akademie sein damals viel aktuelleres und im Rückblick auch bedeutenderes Werk, den 1924 publizierten Bildungsroman „Der Zauberberg“, ganz bewusst ignoriert – worüber Thomas Mann ziemlich verärgert war. Zumal neben den beiden genannten Monumenten in Manns Werken auch schon damals herausragende Novellen wie „Tonio Kröger“ von 1903 oder „Der Tod in Venedig“ von 1911 enthalten waren, die noch heute zur Standardlektüre der gymnasialen Oberstufe gehören.
Manns Aufnahme in den schriftstellerischen Olymp war alles andere als eine Überraschung gewesen. Immerhin zählte er bereits in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts zu den wenigen weltliterarischen Giganten und war schon 1924 auf Anregung Gerhart Hauptmanns, dem Nobelpreisträger des Jahres 1912 und Dauer-Konkurrenten um die Krone des deutschen Dichterfürsten, erstmals nominiert worden. Der Literaturpapst Marcel Reich-Ranicki war hierzulande der glühendste Verehrer Thomas Manns, den er „vielleicht wie keinen anderen seit 1832“ so sehr bewundert hatte. Damit nahm er Bezug auf Goethe, dem großen Vorbild Thomas Manns – neben Nietzsche, Schopenhauer, Richard Wagner, Tolstoi, Dostojewski, Flaubert, Ibsen, Dickens und Schiller. Goethe übte eine kaum zu überschätzende Anziehungskraft auf Thomas Mann aus, was sich in zehn bedeutenden Essays und 1939 in seinem Roman „Lotte in Weimar“ niederschlagen sollte.
Wertschätzung hatte nachgelassen
Reich-Ranicki war es auch zu verdanken, dass Manns weitgehend unbeachtetes Spätwerk „Der Erwählte“ von 1951 rund um die mittelalterliche Legende des Papstes Gregorius neu bewertet wurde als „wohl der prächtigste, der raffinierteste deutsche Unterhaltungsroman des 20. Jahrhunderts“. Der ebenso ehrgeizige, selbstgefällige, ichbezogene wie diszipliniert und arbeitswütige Vielschreiber und begnadete Selbstdarsteller Thomas Mann wollte unbedingt literarische Meisterwerke für die Ewigkeit schaffen, was ihm im Kollegenkreis viele Neider und Feinde einbrachte.
Er wollte Großes vollbringen, weshalb für ihn das Etikett „Großschriftsteller“, das Robert Musil in seinem Opus „Mann ohne Eigenschaften“ mit Blick auf Mann konzipiert und später gemeinsam mit Kurt Tucholsky despektierlich gegen den berühmten Kollegen eingesetzt hatte, wie maßgeschneidert erscheint. Dass der aalglatte, wenig liebenswürdig und mit einem unverhüllten Bedürfnis nach Repräsentanz auftretende, stets bürgerlich und hochkonventionell gekleidete Thomas Mann auch eine schwache Seite hatte, wurde so recht erst nach der postumen Veröffentlichung seiner Tagebücher bekannt. Wobei vor allem das Leiden wegen der Unterdrückung seiner homoerotischen Neigungen betroffen machte. Man habe lange viel zu wenig zur Kenntnis genommen, so Reich-Ranicki, dass Mann „von seinen frühen Jahren bis ins hohe Alter ein Erotiker war und dass sexuelle Motive in seinem Werk eine zentrale Rolle spielen.“
Die Wertschätzung für Manns literarisches Schaffen hatte nach seinem Tod im Zürcher Kantonsspital am 12. August 1955 im Alter von 80 Jahren deutlich nachgelassen, weil seine Prosa vor allem in Schriftstellerkreisen als hoffnungslos veraltet abgetan worden war. Doch ab den 1980er-Jahren hatte eine Mann-Renaissance eingesetzt, die ab der Jahrtausendwende dank der Verfilmungen unter der Regie von Heinrich Breloer, „Die Manns – Ein Jahrhundertroman“ von 2001 und „Buddenbrooks“ von 2008, so richtig Fahrt aufgenommen hatte.
Der am 6. Juni 1875 in Lübeck geborene Paul Thomas Mann verlebte dort nach eigenem Bekunden eine „gehegt und glücklich“ verlaufende Kindheit. Dank eines hochangesehenen Vaters, der der Familie als Kaufmann und Senator ein beträchtliches Vermögen zur Verfügung stellen konnte, und einer kunstsinnigen Mutter mit brasilianischen Wurzeln. Probleme sollten sich erst beim Besuch des Gymnasiums einstellen, das Mann samt drei Ehrenrunden lustlos mit der Mittleren Reife abschloss, wobei seine Leistungen selbst im Fach Deutsch nicht über ein „recht befriedigend“ hinauskamen. Er wollte in die Fußstapfen seines älteren Bruders Heinrich treten und wie dieser die schriftstellerische Laufbahn einschlagen. Sehr zum Missfallen des Vaters, der keinen Nachfolger für das florierende Privatunternehmen mehr hatte und daher dessen Auflösung im Falle seines Todes testamentarisch verfügte. Nachdem ihr Gatte 1891 verstorben war, zog Mutter Julia 1893 mit ihren drei jüngsten Sprösslingen Julia, Carla und Viktor nach München um, wohin ihnen Thomas Mann ein Jahr später folgen sollte.
Berühmt und finanziell unabhängig zugleich
Familiärem Druck gehorchend trat er eine Stelle als Volontär bei einer Feuerversicherungsgesellschaft an. Doch diese Beschäftigung beendete er schon 1895 zugunsten gelegentlicher Vorlesungsbesuche an der Technischen Hochschule München, weil er sich für einen Beruf als Journalist qualifizieren wollte. Erste Artikel konnte er in Zeitschriften wie „Die Gesellschaft“, „Das zwanzigste Jahrhundert“ oder „Simplicissimus“ veröffentlichen. 1896 brach er nach Italien auf, wo er während eines anderthalbjährigen Aufenthalts einige Novellen zu Papier brachte und im Oktober 1897 mit der Arbeit an den „Buddenbrooks“ begann.
Zurück in München führte Mann inmitten illustrer Literatenkreise das Leben eines Bohemiens und konnte 1897 in Samuel Fischers Verlag den Novellenband „Der kleine Herr Friedemann“ veröffentlichen. Obwohl dessen Erfolg mehr als bescheiden war, war Fischer vom Talent seines jungen Schützlings so sehr überzeugt, dass er ihn zum Schreiben eines größeren Werkes ermunterte. Mit dem Ergebnis, dass er ein megadickes Buch mit dem Titel „Buddenbrooks – Verfall einer Familie“ ausgehändigt bekam, dessen Kürzung um die Hälfte der Autor verweigerte, weshalb 1901 eine schwer verkäufliche Ausgabe in zwei Bänden erscheinen sollte, die 1903 durch eine einbändige, schnell zum Bestseller werdende Edition abgelöst wurde. Mit einem Schlag war Thomas Mann nicht nur berühmt, sondern auch finanziell unabhängig geworden, zumal ihm mit Erreichen der Volljährigkeit noch eine monatliche Apanage aus dem Erbe seines Vaters ausgezahlt wurde.
So sehr er die Freiheiten eines Künstlers zu schätzen wusste, so sehr sehnte er sich aber auch nach gutsituierter großbürgerlicher Sicherheit. Als ihm daher mit Katia Pringsheim, einer kultivierten Professorentochter aus vermögendem Münchner Hause, die ideale Partie für dieses Lebensziel begegnete, führte der Bürgerkünstler sie 1905 zum Traualtar, bezog ein Luxusdomizil in einer Bogenhausener Villa, erhielt Zugang zu den besten Kreisen der Stadt und konnte sechs gemeinsame Kinder großziehen. 1909 wurde mit „Königliche Hoheit“ der zweite von insgesamt elf Mann-Romanen veröffentlicht, denen bis zum Lebensende mehr als 30 Novellen und Erzählungen, zwei Theaterstücke sowie unzählige Essays an die Seite gestellt werden sollten.
Der Erste Weltkrieg leitete eine Politisierung Thomas Manns ein, der sich im Laufe der Jahre von einem Kriegsbefürworter und Monarchisten zum überzeugten Demokraten und Anhänger der Weimarer Republik wandelte. Schließlich wurde er zu einem der entschiedensten Gegner im Kampf gegen Hitler und das NS-Regime. Auf Anraten seiner Familie war er nach der Machtergreifung der Nazis Anfang 1933 von einer Auslandsreise nicht mehr ins Reich zurückgekehrt, sondern wanderte mit seiner Familie über Zwischenstationen im südfranzösischen Sanary-sur-Mer und dem Schweizerischen Küsnacht Anfang 1938 in die USA aus. Dort bezog er für das wahre, gute Deutschland Position. „Was für die Briten ihre Windsors“, so Reich-Ranicki, „das sind den Deutschen, jedenfalls den Intellektuellen, die Manns.“ Während des Krieges hatte Thomas Mann seine deutschen Landsleute regelmäßig via BBC mit der Radiosendung „Deutsche Hörer!“ über die Verbrechen der Nazis informiert. Aufgezeichnet hatte er diese in seinem Exil.
Im Exil kam er bestens über die Runden
Er war einer der wenigen Exilanten, der in den USA dank Bücher-Tantiemen und mäzenatischer Unterstützungen finanziell bestens über die Runden kam, sogar ein Nobelanwesen in Los Angeles konnten sich die Manns leisten. Nachdem er seine 1933 begonnenen Tetralogie „Joseph und seine Brüder“ 1943 abgeschlossen und 1944 die US-Staatsbürgerschaft erhalten hatte, musste er sich 1951 im Zuge der Kommunistenhatz vor dem Komitee für unamerikanische Umtriebe verteidigen. Für ihn Grund genug, die USA im Juni 1952 Richtung Schweiz zu verlassen und seinen Lebensabend in einer Villa in Kilchberg samt Verfassen des Romans „Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull“ zu verbringen. Seiner deutschen Heimat stattete er zwar mehrfach Besuche ab, eine Rückkehr hatte er sich aber selbst durch seine in einem offenen Brief vom August 1945 verkündete These von der Kollektivschuld wohl ganz bewusst verbaut.