In den 90ern häuften sich Berichte über Menschen, die behaupteten, von Außerirdischen entführt worden zu sein. Heute ist es auffallend still geworden um das Thema – zumindest auf den ersten Blick.
Den Sommer 1986 wird Karl Grossmann nie mehr vergessen. „Ich hatte mir gerade ein neues Auto gekauft und wollte mit ihm eine Spritztour unternehmen“, erzählt der US-Amerikaner, der heute 69 Jahre alt ist und in Kalifornien lebt. „Also bin ich bis in den Yosemite-Nationalpark gefahren und habe auf dem Rücksitz übernachtet.“
Was dann geschah, darüber hat er 30 Jahre lang geschwiegen– aus Scham, als Verrückter abgestempelt zu werden. Aus Furcht, vor anderen als Depp dazustehen. Aus Sorge, Freunde und Familienmitglieder zu verprellen. Doch irgendwann hielt der ehemalige Auto-Mechaniker das Schweigen nicht mehr aus. Jetzt sitzt er bei seiner Therapeutin, um das Erlebte noch einmal Revue passieren zu lassen. Das Licht ist gedimmt, im Regal liegen Wolldecken, um Geborgenheit zu vermitteln. Grossmann atmet tief durch, dann fängt er mit leiser Stimme an zu erzählen. „Mitten in der Nacht“, sagt er, „ist im Nationalpark eine Art Feuerball über den Bäumen erschienen.“ Ein warmer, weißer Lichtstrahl habe ihn erfasst und „nach oben“ gezogen. „So etwas Friedliches habe ich noch nie gespürt“, sagt Grossmann, doch schon wenige Minuten später bekam er es mit der Angst zu tun. „Ich lag auf einem Tisch, konnte mich nicht bewegen. Drei spindeldürre graue Wesen mit Mandelaugen standen um mich herum und untersuchten mich. Einer von ihnen sagte nur ein Wort: Züchtung.“
Ein Beweis für Aliens, die auf der Erde ihr Unwesen treiben? Oder nur ein Beispiel für blühende Fantasie? In den USA ist die Bevölkerung gespalten, was diese Frage angeht. Laut einer aktuellen Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Ipsos glauben 57 Prozent an intelligentes Leben auf anderen Planeten. 45 Prozent bejahten die Aussage: „Ufos existieren und haben die Erde bereits besucht.“ Ganz so allein wie 1986 ist Grossmann heute also nicht mehr. Trotzdem fällt auf, dass sich dieser Tage nur noch selten Menschen aus der Deckung wagen, um intergalaktische Begegnungen preiszugeben. Ganz anders in den 1990er-Jahren: Vor allem in den Vereinigten Staaten berichteten die Medien regelmäßig über Personen, die von Außerirdischen entführt und auf verschiedenste Weise gequält wurden –
oder ebendies behaupteten. Die Mystery-Serie „Akte X“ brachte das Thema in Millionen von Wohnzimmern; Talkshow-Moderatorin Oprah Winfrey lud Menschen ins Studio ein, die ihre Begegnungen der dritten Art schilderten.
Begonnen hatte alles mit Betty und Barney Hill. Das Ehepaar war 1961 mit dem Auto von Montreal nach New Hampshire unterwegs, als ein unbekanntes Flugobjekt am Himmel auftauchte. Erst zu Hause fiel ihnen auf, dass sie sich an zwei Stunden ihrer Fahrt nicht erinnern konnten. Unter Hypnose konnten sie die Erinnerungslücken schließen: Sie seien in das Ufo transportiert und dort medizinisch untersucht worden, erzählten sie ihrem Psychiater (der stets an die Aufrichtigkeit seiner Patienten glaubte). Es folgten Zeitungsberichte, Bücher und eine TV-Verfilmung – das Phänomen der Alien-Entführungen war geboren.
Und damit auch die Debatte darüber, ob sie stimmen oder nicht. Kritiker wie der Psychologe Leonard Newman (University of Illinois, Chicago) sprachen von „falschen Erinnerungen, Fantasie und Tagträumen“; andere Wissenschaftler, die sich ebenfalls mit der Thematik beschäftigten, hielten die Schilderungen für authentisch. Zumal seit den 1970er-Jahren das Vertrauen in die amerikanische Regierung sichtbar gesunken war. Der Watergate-Skandal und der Vietnam-Krieg hatten ihre Spuren hinterlassen. Wenn die Regierung in diesen Punkten lügt – so die Annahme vieler US-Bürger –, vielleicht tut sie es dann ja auch in Bezug auf Aliens.
„Sie standen in meinem Schlafzimmer“
Mit John Mack beschäftigte sich in den 90er-Jahren ein renommierter Harvard-Professor mit dem Phänomen, das scheinbar immer weiter um sich griff. Mack organisierte Konferenzen, bei denen sich Wissenschaftler verschiedener Disziplinen austauschen konnten. In seinen Untersuchungen kam er zu dem Schluss, dass viele Personen, die von Alien-Entführungen berichteten, unter posttraumatischen Belastungsstörungen leiden – wie Soldaten, die im Krieg etwas Traumatisches erlebt haben. Ob dabei wirklich Außerirdische im Spiel waren, vermochte auch Mack nicht zu sagen. Er war jedoch Zeit seines Lebens davon überzeugt, dass die Betroffenen selbst daran glauben.
Und heute? Funkstille. In den USA sind Außerirdische vor allem dort sichtbar, wo sie Geld bringen. In der Kleinstadt Roswell, wo 1947 ein Ufo abgestürzt sein soll, wirbt fast jedes Geschäft mit kleinen grünen Männchen. Auf den Straßenlaternen kleben Augen, damit sie wie Alien-Köpfe aussehen. Und die McDonald’s-Filiale wurde so gestaltet, dass sie einem Raumschiff ähnelt. Ernsthaft diskutiert wird das Thema in der Öffentlichkeit aber kaum noch. Selbst „Akte X“, einst ein Mekka für „Gläubige“, hatte sich irgendwann totgelaufen. Nach den Terroranschlägen aufs World Trade Center sei „einfach nicht mehr die richtige Stimmung“ dagewesen, erzählte Akte-X-Produzent Chris Carter bei einem Treffen mit Fans im Jahr 2008.
Das bedeutet jedoch nicht, dass alle, die an Alien-Entführungen glauben, ebenfalls vom Erdboden verschwunden sind. „Es betrifft noch immer sehr viele Menschen“, sagt Laurie McDonald, eine amerikanische Psychotherapeutin, die sich auf das Thema spezialisiert hat. Auch Karl Grossmann gehört zu ihren Patienten. In ihrer Praxis in Sacramento hängen zahlreiche Urkunden, die sie als Hypnotiseurin ausweisen – eine Technik, durch die Betroffene ihre Erinnerungen wiedererlangen sollen. McDonald ist eine selbstbewusste Frau, die für ihre Arbeit brennt. „Die Leute haben es satt, dass sich die Mainstream-Medien über sie lustig machen“, sagt sie. Deshalb redeten die meisten heute nur noch in Selbsthilfegruppen oder sozialen Netzwerken über das Erlebte.
McDonald berichtet von 1.300 Fällen, die sich auf ihrem Schreibtisch stapeln. „Natürlich gibt es Leute, die auf Drogen sind und sich das Ganze einbilden“, räumt die Therapeutin ein. Die meisten Schilderungen hält sie aber für authentisch. „Diese Menschen haben etwas Traumatisches erlebt. Unter Hypnose erzählen sie mir sehr detailliert, was ihnen widerfahren ist.“ Ihre Patienten seien sowohl männlich als auch weiblich und kämen aus verschiedenen Ländern. Vom Hausmeister bis zum Spitzenpolitiker sei alles dabei.
Auch Wissenschaftler haben sich schon mit der Frage beschäftigt, welche Personengruppen am ehesten betroffen sind. Die Ergebnisse fielen unterschiedlich aus. Manche befanden, die Betroffenen hätten eine überdurchschnittlich rege Fantasie. Andere schlussfolgerten, es handle sich um Durchschnittsbürger mit intaktem Verstand. Wie viele Menschen tatsächlich von Außerirdischen entführt wurden (oder es glauben), darüber gibt es keine Statistiken. Wohl auch, weil das Thema für viele mit Scham behaftet ist.
Laurie McDonald geht von einer hohen Dunkelziffer aus. Wobei sie allerdings selbst nicht ganz objektiv ist: Auch sie sei als junge Frau von Aliens entführt worden, erzählt die Therapeutin: „Sie standen in meinem Schlafzimmer, ich hatte keine Angst – bis sie mit einer riesigen Nadel in meinem Bauchnabel eindrangen.“ Kritiker halten solche Schilderungen für Schauergeschichten, mit denen Geld gemacht werden soll.
Unter ihren Patienten genießt McDonald hingegen einen Heimvorteil. Sie tritt auf Ufo-Kongressen auf, leitet eine Selbsthilfegruppe, hat demnächst ihre eigene TV-Sendung. Sie ist eine von ihnen. Warum sollten Menschen die einzigen intelligenten Lebewesen im Universum sein, lautet ihr Standpunkt. Und die Entführungen? „Werden von verschiedenen Alien-Rassen durchgeführt“, sagt McDonald. „Sie haben alle ihre eigenen Motive. Und natürlich verletzen sie damit unsere Menschenrechte.“
Karl Grossmann hat es geholfen, mit seiner Therapeutin über den verhängnisvollen Sommertag im Yosemite-Nationalpark zu sprechen. „Heute ist es mir egal, ob mich die Leute für verrückt halten“, sagt der 69-Jährige. Er sei ruhiger geworden, gelassener. „Die Angst ist jetzt viel geringer“, sagt er. „Auch wenn ich jetzt weiß, dass da draußen mehr ist, als die meisten denken. Viel mehr.“