Die Clinker Lounge der Backfabrik will Berlins Kammermusik-Hotspot werden. Wegen Corona gibt es vorerst nur Streams, die aber deutlich mehr sind als abgefilmte Konzerte.
Die Backfabrik, die einstige Großbäckerei unweit des Berliner Alexanderplatzes, ist ein riesiges Areal. Am Rand des fußballfeldgroßen Innenhofs führt eine unscheinbare Tür zu einer Wendeltreppe. Hinab geht es in die Kellergewölbe, die einst die Eishalle beherbergten. Seit Mitte 2018 finden hier Musikveranstaltungen statt, die Clinker Lounge Concerts.
Geboten wird klassische Musik im Club-Ambiente – das liegt seit Jahren im Trend. Allein in Berlin buhlen diverse Veranstalter um Klassikfreunde, die es zwanglos mögen: von der rbb Kultur Klassik Lounge über den Piano Salon Christophori bis zu Blackmore‘s Musikzimmer. Dabei geht es stets darum, klassische Musik jenseits „steifer“ Aufführungstraditionen zu erleben: hautnah an den Musikern dran, in lässiger Atmosphäre, gern mit einer Bierflasche in der Hand.
Da reihen sich die Clinker Lounge Concerts nahtlos ein. „Die Intimität, mit der die Zuschauer die Aufführungen erleben, ist ein zentraler Wert der Konzerte“, so beschreibt es Lea Schwamm, die künstlerische Leiterin der Veranstaltungsreihe. „Diese Nähe entsteht auch durch die offene Einrichtung des Raumes. Vor und nach dem Konzert können die Besucher mit den Künstlern ins Gespräch kommen.“
So ging es hier jedenfalls zu, bevor das Coronavirus das Konzertleben lahmlegte. Kurz vor dem Lockdown konnten Besucher beispielsweise bei stimmungsvollem Kerzenschein das Rothko String Quartet erleben, das Musik aus vier Jahrhunderten in verschiedenen Besetzungen spielte: vom Solo bis zum Quartett. Mal stellte sich Geiger William Overcash auf die raumteilende Brüstung; dann wieder musizierte er im Bar-Bereich und wurde für die Besucher unsichtbar. Das überwiegend junge, englisch sprechende Publikum war begeistert. Auch davon, wie der Raum „bespielt“ wurde, denn der eignet sich tatsächlich für unterschiedlichste Veranstaltungsformate. Die Programm-Macher koppeln Musik gern mit Lesungen, Tanz oder Performance. Sie organisieren auch Kinderkonzerte, das kommt bei den vielen jungen Familien im Bezirk Prenzlauer Berg gut an.
Intime Atmosphäre in alten Kellergewölben
Doch vorerst sind sämtliche Live-Veranstaltungen gestrichen. „Wir haben nicht genug Personal, um die Hygienemaßnahmen umzusetzen“, erklärt die künstlerische Leiterin Lea Schwamm. „Und dass wir einen Keller bespielen, wenn auch mit Belüftung, macht die Sache nicht einfacher. Wir wollen natürlich kein Gesundheitsrisiko eingehen und setzen darauf, dass andere Veranstalter in den nächsten Monaten Konzepte erproben, die wir dann übernehmen können.“ Lea Schwamm, die selbst Geigerin ist, hofft, dass der normale Konzertbetrieb bald wieder aufgenommen werden kann. „Es ist natürlich viel schöner, die Musik angstfrei ohne Gesichtsmaske zu erleben und dort zu stehen oder sitzen, wo man will“, meint sie.
Angesichts von Corona profitiert die Clinker Lounge davon, dass sie in der Vergangenheit ihre Moon Sessions als Markenzeichen etabliert hat: Künstler diverser Genres machen hier professionelle Film- und Tonaufnahmen vor Publikum. Die Bandbreite reicht dabei von Klassik und Jazz bis zu zeitgenössischer und experimenteller Musik.
„Die Moon Sessions haben sich als Anlaufstelle für Künstlervideos, Tonaufnahmen oder Live-Streams herumgesprochen“, sagt Lea Schwamm. „Für das Publikum ist es eine einzigartige Erfahrung, die konzentrierte Atmosphäre einer professionellen audiovisuellen Aufnahme-Session zu erleben.“
Nun kann die Clinker Lounge ihre Auszeit mit hochwertigen Streams und Konzertmitschnitten überbrücken. Ein Link auf der Internetseite führt zu einer Live-Aufnahme des renommierten Armida Quartetts aus Berlin, ARD-Preisträger von 2012. Das Ensemble spielt das expressive „Erste Quartett“ von Sofia Gubaidulina, der wohl bekanntesten zeitgenössischen russischen Komponistin. Während das Publikum hinter die Kulissen einer Musikproduktion blicken kann, profitieren auch die Musiker von der Konstellation. „In einem gewöhnlichen Aufnahmestudio hat man nie dieselbe Inspiration wie bei einer Live-Performance mit Zuhörern“, sagt Geiger Jonias-Ilias Kadesha. Und Schlagzeugerin Evi Filippou findet: „Ich will mit dem Publikum kommunizieren. Wenn Leute dabei sind, klingt alles anders. Daher kann ich durch einen Mitschnitt von den ‚Moon Sessions‘ auch vermitteln: Es macht Spaß, zum Konzert zu kommen.“
Bis es soweit ist, profitieren die Künstler auch in anderer Hinsicht von den Aufnahmen der Konzerte. Denn Präsentation und Selbstvermarktung im digitalen Bereich werden auch für Musiker immer wichtiger. Die Moon Sessions bieten eine Möglichkeit, sich das entsprechende Handwerkszeug anzueignen: Wie präsentiert man sich in einem Video? Wie kommt man bei einem Interview gut rüber? Wie plant man originelle digitale Formate?
Bei den Moon Sessions kommen fünf Kameras und etliche Mikrofone zum Einsatz. „Das Team bringt Konzerte in bester Qualität in die Wohnzimmer der Zuschauer“, erklärt Lea Schwamm. „Es geht jedoch nicht darum, einfach den Auftritt der Musiker abzufilmen. Wir wollen einen digitalen Mehrwert bieten. Das kann ein Interview sein oder eine Werkeinführung.“
„Einzigartige Erfahrung für das Publikum“
Ende Mai produzierte die Clinker Lounge eine Art musikhistorischen Krimi. Hier geht es um die Sonatensammlung „Il pastor fido“, die mehr als 250 Jahre als eines der schönsten Werke aus der Feder Antonio Vivaldis galt.
Erst 1990 wurde ein alter Brief gefunden, der Vivaldis unbekannten Zeitgenossen Nicolas Chédeville als Komponisten identifizierte. Doch wie konnten sich ganze Generationen irren? In einem interaktiven Online-Konzert berichten Musiker von dieser kuriosen Täuschung. Es gibt eine Online-Umfrage unter den Zuschauern; erst zum Schluss wird das Rätsel um den eigentlichen Urheber des Werks aufgelöst. Es spielt ein Trio aus hochkarätigen Künstlern: der Oboist und Tschaikowski-Preisträger Juri Vallentin, der gefragte Barock-Cellist Patrick Sepec sowie die Opus-Klassik-Preisträgerin Elina Albach am Cembalo.
All das ist nicht weniger aufwendig als die Organisation eines „echten“ Konzerts. Daher werden Spendentickets angeboten, die den Zugang zum Stream ermöglichen. „Bisher haben sich alle Zuschauer bereit erklärt, etwas zu spenden. Die Einnahmen gehen an die Künstler sowie das Team der Kameraleute und Tontechniker“, erzählt Lea Schwamm, die auch einen Antrag für das Berliner Corona-Förderprogramm zur digitalen Entwicklung im Kulturbereich gestellt hat.
Mäzen der Konzertreihe ist Hargen Bartels, der Besitzer der Backfabrik. Er wünschte sich Kammermusik auf dem Gelände, stellte die Räumlichkeiten zur Verfügung und finanziert die Stelle der künstlerischen Leiterin. Lea Schwamm, UdK-Absolventin und freiberufliche Profi-Geigerin, erledigt sämtliche anfallenden Arbeiten: von Booking und PR bis zu Bestuhlung und Beleuchtung. Zuvor arbeitete sie ein paar Jahre im Vorstand des Kammerorchesters Ensemble Reflektor, das sie zusammen mit befreundeten Musikern gründete. Jetzt ist sie hauptsächlich damit beschäftigt, weitere Beiträge für die „virtuelle Clinker Lounge“ zu planen, hofft aber inständig, dass bald wieder Konzerte im Eiskeller des traditionsreichen Gebäudekomplexes stattfinden können. Wo zu DDR-Zeiten das beliebte „Moskauer Sahneeis“ angerührt wurde. Und die Kacheln heute für eine ganz besondere Akustik bei den Kammermusikabenden sorgen.